Hasret arbeitet bei einem türkischen Nachrichtensender mit dem anspruchsvollem Leitsatz: „Was Sie sehen, ist die Wahrheit. Was Sie hören, ist die Wahrheit.“ Doch plötzlich beginnen sich die Dinge zu ändern. Redakteure werden angehalten, die Reden von Politikern nicht mehr zu kommentieren. Nachrichten werden manipuliert, und die Nutzung sozialer Netzwerke auf firmeneigenen Computern wird verboten. Hasret wird von ihrer anmaßenden Chefin gemobbt und verliert ihren Job als eigenverantwortliche Cutterin. Sie zieht sich in ihre Wohnung zurück und leidet zunehmend an Wahnvorstellungen: Sie hört Stimmen, die Wände bewegen sich, und sie sieht Gardinen brennen. Außerdem ahnt sie, dass ihre Eltern vor über 20 Jahren nicht bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen sind, sondern auf andere, schreckliche Weise gestorben sein müssen. Doch was wird ihr verschwiegen?
Kritik
„Eine kleine Paranoikerin?“ Mehr ist die junge Soziologin Hasret (Algi Eke) für ihren Freund Mehmet (Özgür Çevik) nicht. Anfangs versucht die angespannte Hauptfigur von Ceylan Ozgun Ozceliks intensivem Spielfilmdebüt die seltsamen Vorkommnisse um sie herum zu ignorieren. Die Arbeit einem türkischen Nachrichtensender ist strapaziös genug. Gewissenhaftigkeit ist dort nur hinderlich, wenn es um populistische Schlagzeilen geht. Vorsichtige Kritik von Hasret wird sofort abgestraft. Bei der Beförderung wird sie übergangen und zurückgestuft. Da ist sie schon zu abwesend, um die spitzen Bemerkungen ihrer Kollegin zu hören. Zu Hause warten die Dämonen der Vergangenheit.
Nacht für Nacht kriechen Geräusche und schwelender Geruch in ihre Wohnung und dazu Fetzen von Bildern. Der Lärm aus den Nachbarwohnungen zerrt an ihren Nerven, aber kein Dämmen kann die Laute ausblenden. Beängstigender als der Krach sind die sanften Töne einer Melodie, deren Herkunft sie nicht entschlüsseln kann. Mehmet behauptet, er mache sich Gedanken um sie, aber er kennt nur pathologische Kategorien für ihre furchterregenden Visionen. „Muss jeder, der mal einen schlimmen Traum hatte, zum Psychiater gehen?“, fragt sie zornig. Die Wirklichkeit ist ohnehin rein subjektiv, eine Frage von Auslassung und Akzentuierung. Das führt der TV-Job der jungen Protagonistin Tag für Tag vor Augen.
Die Nachrichten, die zu konstruieren sie täglich mithilft, sind ein Abgrund aggressiver Parolen und zensierten Gedankenguts. Im Hinterzimmer des Fernsehstudios wird die Realität routinemäßig am Schneidetisch zurechtgestutzt. Auf dem Bildschirm wird unterdessen Seriosität gepredigt: Was Sie sehen, ist die Wahrheit. Was Sie hören, ist die Wahrheit. Doch hinter der erlogenen Faktizität schält sich tief Verborgenes an die Oberfläche, wie die schorfigen Wunden, die Hasret an sich entdeckt. Es ist sind Bilder eines Grauens, das ihrer an Aphasie leidenden Tante buchstäblich die Sprache verschlug, und den hintersinnigen Psychospiel mit jeder doppelbödigen Minute packender und verstörender macht.
Fazit
Zwischen Horror, Mystery-Thriller und Seelenstudie seziert Jungregisseurin Ozcelik mit messerscharfer Präzision ein Staatssystem auf der Kippe zu Diktatur. Meinungsunterdrückung und Zensur wurden hier schleichend Teil einer Tagesordnung, die den Tätern von einst die Machtposten der Zukunft in Aussicht stellt. Ein versteckter Höhepunkt des Festivals, atmosphärisch, subtil und brandaktuell.
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