Inhalt
Im iranischen Zagrosgebirge erlebt die sechzehnjährige Sogol einen Winter, der jede ihrer Entscheidungen prägt. Ihre Tage bestehen aus Pflichten, Handel und Wegen, die vom Wetter abhängig sind. Sie kümmert sich um ihren jüngeren Begleiter Delaram und hält an einem festen Gedanken fest: Lernen kann den Weg in die Zukunft erweitern. Während Stürme, Entfernungen und bürokratische Hürden immer näher rücken, wägen sie die Anziehungskraft der Tradition gegen die Chance auf etwas Neues ab. „Winter“ erzählt von einem stillen Kampf ums Überleben und den kleinen Gesten der Fürsorge, die die Hoffnung am Leben erhalten – Jahreszeit für Jahreszeit.
Kritik
Der Winter, den Sajad Imani im Titel seines observativen Dokumentarfilms benennt, ist mehr als eine Jahreszeit, die das Leben in den abgelegenen Hochebenen des Zagros-Gebirges für die Figuren noch härter macht. Es ist zugleich ein sozialstrukturelle Eiszeit, erstarrt in patriarchalischen Strukturen. Jene ersticken die Chancen und Hoffnungen zahlloser junger Mädchen wie der heranwachsenden Protagonistin. Sogol, wie sie von ihrer kleinen Familie genannt wird, ist gerade mal 16 Jahre, doch ihre eigenen Träume von einem anderen Leben jenseits der Berge sind bereits zerstört.
Umso entschlossener kämpft sie für eine Schulbildung ihrer jüngeren Verwandten Delaram. Obwohl beide nicht die gleiche Mutter haben, ist das kleine Mädchen wie eine Schwester für Sogol, deren Alltag zwischen dem Hüten der Ziegenherde, Hausarbeiten und Familienpflichten verstreicht. Minimalistische Kamerabilder zeigen die harsche Landschaft als soziale und strukturelle Einöde, deren Offenheit ein unsichtbares Gefängnis birgt. Die topographische Weite kontrastiert mit der geistigen Enge einer Tradition, die weibliche Familienmitglieder schon in der Kindheit in eine eingeschränkte Erwachsenenrolle drängt.
Dass auch die jugendliche Protagonistin Opfer dieser Zwänge ist, erschließt sich erst in den letzten Minuten der zurückgenommenen Melange aus Sittenbild und Figurendrama. Ausdauernde, stille Einstellungen vermitteln die psychische Isolation innerhalb einer Naturkulisse von karger Schönheit. Das erdrückende Schweigen der Berge, die verschneite Steppe und frostbedeckte Zweige atmen eine soziale Kälte, in der Sorglos warmherzige Fürsorge gegenüber Delaram umso kostbarer erscheint. Der stille Konflikt zwischen Verharren und Veränderung bildet das emotionale Rückgrat einer intimen Beziehungsstudie frei von idealistischer Verklärung.
Fazit
Ohne didaktischen Kommentar oder sentimentale Stilmittel gewährt Sajad Imani einen unaufdringlichen Einblick in eine im Verschwinden begriffene Lebensweise. Deren zentrale Problematik sind die Gegenpole von Fortschritt und Tradition, Bildung und Brauchfolge, individuelle Sehnsüchte und familiäre Gemeinschaft. Bestimmt von Witterung, Jahreszeiten und archaischen Gesellschaftsregeln ist die nomadische Kultur gleichsam Relikt vergangener Zeiten und Spiegel einer regressiven Moderne. Vor diesem formal schlichten, thematisch vielschichtigen Hintergrund ist der Jahreskreislauf zugleich Sinnbild starrer Tradition und des unaufhaltsamen Wandels, der bis zuletzt nur eine vage Möglichkeit bleibt.
Autor: Lida Bach