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In ihrem zweiten Dokumentarfilm verfolgt Maria Speth über Monate die Klasse 6B und ihren antiautoritären Lehrer, Herr Bachmann, der mit besonderem Empathievermögen und unkonventionelle Lehrmethoden den Herausforderungen nachgeht, seine Schüler*innen auf die weiterführende Schule vorzubereiten. 

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Quelle: themoviedb.org

Kritik

Viel Zeit ist ins Land gestrichen, seit Maria Speth mit ihrer Abschlussarbeit an der Film-Universität Konrad Wolf in Babelsberg ihr Spielfilmdebüt feierte. In den Tag hinein hieß dieser Film, in dem sie damals von einer Liebesgeschichte in Berlin erzählte, deren Inszenierung formal an das Hongkonger Kino der 90er Jahre erinnerte, gleichzeitig aber einem sozialen Realismus verpflichtet schien. 2021 stellt sie mit Herr Bachmann und seine Klasse, der auf der 71. Berlinale mit dem Jury-Preis ausgezeichnet wurde, einen Film vor, wie er sich zum Erstling kaum weiter unterscheiden könnte. Im Jahr 2015 mit Geldern der deutschen Filmförderung ausgestattet, begleitete sie bis Juli 2017 die Klasse 6B ihres alten Freundes Dieter Bachmann an der Georg-Büchner-Schule in Stadtallendorf, Hessen. Bachmann, ein Alt-68er im ACDC-Sweater, habe ihr über Jahre hinweg von seinen Schüler*innen erzählt, und sie immer wieder dazu angehalten, sich seinen Arbeitsalltag doch einmal selbst vor Ort anzusehen. Von der Großstadt in die Provinz, so ließe sich der Bogen spannen, doch würde er niemandem gerecht: nicht den Grundschüler*innen, nicht der hessischen Kleinstadt, nicht Herrn Bachmann und sicher nicht Speth, der hier mit ihrem zweiten Dokumentarfilm nach dem zehn Jahre zuvor erschienenem 9 Leben ein kleines Wunder gelingt. 

Der hessische Melting Pot 

Das kleine Stadtallendorf im Umland Marburgs ist seit beinahe einem Jahrhundert ein historisch bedeutsamer Industriestandort. Im Nationalsozialismus unrühmlich (noch unter dem Namen Allendorf) die größte Fertigungsstätte für Munition und Sprengstoff Europas, erhielt der Ort 1960 den Stadtstatus, als eine Vielzahl von Gastarbeiter*innen in die Nähe des Industriestandorts zogen, an dem sich nun Ferrero Deutschland (zuvor „Assia“) und die Eisengießerei Fritz Winter ansiedelten. Vorrangig Menschen aus Südosteuropa waren das, die infolge der deutschen Anwerbeabkommen vorrangig aus Ländern wie Jugoslawien, der Türkei, Italien oder Griechenland in die BRD kamen. Als bedeutender Industriestandort ist Stadtallendorf bis heute das Zuhause dieser und neuer Einwander*innen und deren Folgegenerationen. Und viele ihrer Kinder gehen oder gingen hier auf die Georg-Büchner-Grundschule, an der Dieter Bachmann seit nunmehr 17 Jahren („meine längste Beziehung“) unterrichtet. In seinem letzten Halbjahr vor der Rente ist ihm die Klasse 6B in die Verantwortung gefallen, die er mit unkonventionellen Methoden leitet. 

Die Klasse spiegelt in ihrer Diversität an Sprache und Kultur die Bevölkerung der Stadt in ihrer Gesamtheit. Neun verschiedene Nationen finden sich im Klassenzimmer wieder, was dieses gleichsam bereichert, wie es Bachmann und seine Lehrer*innen-Kollegen vor die Herausforderung stellt, alle Schüler gleichermaßen bis ans Ende des Schuljahres, wenn der Wechsel auf die Oberschule ansteht, auf ein ähnliches Niveau zu bringen und sie auf dieses neue Kapitel vorzubereiten. 

Die Schule als Ort der Heimat?

Erst während des Editings, so Maria Speth, habe sie sich wahrhaft in die Schüler*innen verliebt. Dort sei ihr klargeworden, dass sie insbesondere aufgrund ihres Alters noch nicht gelernt haben, sich in sozialen Kontexten zu verstellen, dass das für die Präsentation des Selbst erforderliche Rollenspiel noch nicht beherrscht worden sei. Und es stimmt, immer wieder fokussiert die Kamera eine ihrer jungen Figuren, und bezeugt dabei zuweilen, wie die Gesichtsausdrücke der Schüler*innen binnen weniger Sekunden von Übermut zu Verunsicherung umschlagen, wie ihre Mimik die Denkprozesse auf den Gesichtern dokumentieren, wenn Bachmann und seine Kolleg*innen ihnen Fragen stellen, die eine etwas komplexere Antwort erfordern als ein bloßes Ja oder Nein. Und von solchen Fragen sehen wir einige. Etwa, als Bachmanns Kollegin Aynur Bal, wie viele ihrer Schüler*innen ebenfalls türkischer Herkunft, diese danach fragt, ob Deutschland denn ihre Heimat sei, oder als Bachmann einen Schüler wiederholt dazu anhält, ihm zu verraten, warum er seiner Klassenkameradin nicht helfen wolle. Auf die gleiche entspannte wie bestimmte Weise, wie er später auch eine seiner Schülerinnen um eine Erklärung dafür bittet, warum sie sich angeblich so daran störe, wenn sich zwei Mädchen oder zwei Jungen gern hätten.

Das Warum und das Wie sind Bachmann in seinem Unterricht weitaus wichtiger als das Was. Seine antiautoritäre Haltung ist davon geprägt, immer auch die Umstände seiner Schüler*innen verstehen zu wollen. Er interessiert sich für die Kulturen, deren diese sich zugehörig fühlen, fördert ihr musikalisches Talent und hadert mit dem Notensystem, das keinem dieser Jungen und Mädchen gerecht werde, ganz, als sähe er räumliche Vektoren, wo das Schulsystem nur Punkte beschreibe. Auf diese Weise webt Speth durch einen effektiven Schnitt, der trotz der 217 Minuten Lauflänge keinerlei Längen erzeugt, kleine Handlungsstränge in die Geschichte ein. So zum Beispiel jener um Rabia und ihre Familie, die an einem Umzug denken, was Rabia dazu zwänge, die Schule zu wechseln. Oder die Klassenfahrt, die immer wieder angedeutet wird, bevor sie gegen Ende des Filmes auch tatsächlich angetreten wird. 

Maria Speth fängt das alles so selbstverständlich ein, dass man sich immer wieder in den Szenen verliert. Der Klassenraum, der in vielen Spielfilmen oft als utopischer Raum dargestellt wird, in dem die Klassenkamerad*innen mit makellosen Gesichtern und fester, erprobter Stimme im Hintergrund Schiller, Goethe und Shakespeare vorlesen, während der Protagonist gedankenverloren aus dem Fenster blickt, ist hier vielmehr ein Ort des wahrhaftigen Zusammenkommens, der immer wieder eine Poesie des Alltags erschafft, die uns verlorengegangen wäre, hätte Speth sie nicht auf solch unaufdringliche Weise eingefangen. Hier wird gestottert, sich verhaspelt, das Deutsch spontan durch Türkisch ersetzt, wenn sich da gerade etwas nicht anders ausdrücken lässt, und ähnlich wie eine Mutter, die ihren Sohn durch die elterliche Brille immer nur als das schönste aller Kinder sehen kann, gelingt es Bachmann durch seine Lehrerbrille, auch in den holperigsten Vorträgen seiner Schüler*innen die Schönheit zu erkennen. 

Fazit

Beinahe wundert man sich, wo die Zeit geblieben ist, wenn sich das Klassenzimmer am Ende des Filmes leert und wir noch ein letztes Mal über die Schultern des Lehrers Bachmann blicken. Über niemals langweilige 217 Minuten gewährt uns Maria Speth unverhoffte Einblicke in den Kosmos einer Schulklasse und kreiert auf diese Weise kleines Stück Leben. Ein Meisterwerk.

Kritik: Patrick Fey

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