6.9

MB-Kritik

Pfahl in meinem Fleisch 1969

Drama – Japan

6.9

Shinnosuke Ikehata
Osamu Ogasawara
Yoshimi Jô
Koichi Nakamura
Flamenco Umeji
Saako Oota
Tarô Manji
Toyosaburo Uchiyama
Mikio Shibayama
Wataru Hikonagi
Fuchisumi Gomi
Chieko Kobayashi
Yô Satô
Keiichi Takenaga
Torauemon Utazawa
Nagatoshi Sakamoto

Inhalt

Eddie und Leda, zwei Drag-Queens inmitten Japans funkelnder Präsenz, konkurrieren zusammen um den Gay-Clubinhaber Gonda. Dieser soll sich, körperlich oftmals verschlungen von Eddie und Leda, für eine der beiden Schönheiten entscheiden. Während Leda, bis auf die Tatsache, dass Gonda eher zu Eddie tendiert, zufrieden scheint, wird Eddie von Gefühlen zu seinem ahnungslosen Vater geplagt. Er erträgt es nur unter großem Druck, den Liebeleien seiner Eltern entgegen zu blicken und sehnt sich nach körperlicher Zuneigung des Vaters auf sexueller Ebene. Eddies Drang steigt von Stunde zu Stunde, bis es zur innerlichen Explosion kommt. Eddie verliert die Kontrolle und sein Leben eskaliert.

Kritik

Rauschhaft und fragmentarisch öffnet Toshio Matsumoto (Shura) in seinem Film Pfahl in meinem Fleisch die Pforten in eine Parallelwelt, die abseits gesellschaftlicher Normen als Himmel und Hölle zugleich erstrahlt. Im Tokio der 60er Jahre beleuchtet der japanische Regisseur die wilde Subkultur der Transvestiten-Szene, in der fleischliche Gelüste zwischen den Grenzen der eindeutig zuordenbaren Geschlechter verlaufen. Bereits die Eröffnungsszene des in kühlen Schwarz-Weiß-Bildern gedrehten Films ist eine laszive Täuschung der Sinne, bei der sich das augenscheinliche Liebesspiel zwischen einem Mann und einer Frau als Akt zwischen zwei Männern entpuppt, nachdem der Oberkörper der Person mit den weichen Gesichtszügen und den langen Frauenhaaren eine flache Männerbrust zum Vorschein bringt. Dieser Auftakt, der für sinnliche Verschleierung und trügerische Maskerade steht, enthält die Kernmotive von Matsumotos ungestümen Experimentalfilm, der in avantgardistischer Manier gegen die Sehgewohnheiten des Zuschauers rebelliert, ähnlich wie die schrägen Paradiesvögel, gescheiterten Draufgänger und in isolierter Einsamkeit lebenden Außenseiter, denen Pfahl in meinem Fleisch verschrieben ist. 

Inspiriert wurde der Regisseur dabei maßgeblich von den französischen Filmen der Nouvelle Vague, wobei vor allem der Stil von Jean-Luc Godard (Außer Atem) unübersehbare Spuren in Matsumotos Werk hinterlassen hat. Neben der ausgefallenen, an Godards Jump-Cuts geschulten Montagetechnik, die einer eigenwilligen Logik der blitzartigen Assoziationen folgt und eine schlüssige Chronologie der Geschehnisse nur noch erahnen lässt, setzt der Regisseur ausgiebig auf unkonventionelle Stilmittel wie Bildverfremdungen und Zeitraffer, um den Eindruck einer fremdartigen Welt, die ein Schattendasein inmitten der uns bekannten Realität fristet, nur noch zu intensivieren. In extravaganten, schrillen Etablissements wie die Schwulenbar, in der sich Matsumotos transsexuelle Figuren vorwiegend aufhalten und Kunden durch ihre ausgelassene Art bespaßen, spürt der Regisseur einer gesellschaftlichen Gegenbewegung nach, die sich über eindeutige Gender-Klassifizierungen hinweg erhebt und im taumelnden Tanz des Drogenrauschs nach unabhängiger Selbstverwirklichung und Anerkennung strebt, während immer wieder fratzenartige Gesichter von Außenstehenden als psychedelische Bedrohung auftauchen.

Die Figur, die sich in diesem Zusammenhang in den Mittelpunkt der oftmals wirr erzählten Handlung drängt, ist die Drag-Queen Eddie. Gespielt wird dieser von Shinnosuke Ikehata, der in Japan besser unter seinem Künstlernamen Peter bekannt ist und zu den bekanntesten Drag-Queens des Landes gehört. Matsumoto entdeckte den damals erst 16-Jährigen in einer Schwulenbar und castete ihn prompt für die Hauptrolle seines Films. Dass Hauptdarsteller und Hauptfigur sich aufgrund ihres Erscheinungsbildes und Lebensstils so sehr ähneln, ist ein Aspekt, den der Regisseur als weiteren stilistischen Kniff in das Werk miteinfließen lässt. Während Matsumoto eine Sexszene beispielsweise überraschend auflöst, indem er plötzlich einfach das Filmteam am Set zeigt, ist Pfahl in meinem Fleisch generell ein Film, der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität fortwährend aufhebt und sich immer wieder selbst zu kommentieren scheint.

Interviewpassagen mit echten Transvestiten, die sich hier selbst spielen und zu ihrer Motivation befragt werden, stechen ebenso hervor wie Zitate aus der Kunstgeschichte sowie persönliche Anmerkungen des Regisseurs, der sein eigenes Werk somit zwischen selbstparodistischen Tendenzen und komplexen Meta-Ebenen positioniert. Nicht immer leicht verständlich ist die Geschichte, in der Drag-Queen Eddie im Konkurrenzkampf mit dem Transvestiten Leda um die Gunst von Drogenhändler Gonda buhlt und dessen Liebe einfordert, während die Handlung aufgrund eines Traumas aus Eddies Vergangenheit eine bizarre Wendung ödipalen Ausmaßes nimmt. Nichtsdestotrotz strahlen unentwegt große Einsamkeit und das Gefühl, unverstanden zu sein, durch die Bilder von Matsumotos Film. Mit unvergleichlicher Stilwut, die unter anderem Stanley Kubrick als wesentlichen Einfluss für seinen Film Uhrwerk Orange anführte, ist Pfahl in meinem Fleisch ein ungemein humanistischer Film. Einfühlsam und tragisch widmet sich der Regisseur denjenigen, die sichtbar unter uns weilen und sich dabei doch unsichtbar fühlen, bis nur noch extremste Maßnahmen dazu führen, dass sie von uns wahrgenommen werden.

Fazit

Toshio Matsumotos „Pfahl in meinem Fleisch“ entführt den Betrachter auf rauschhaft-betörende Weise in die verruchte, schrille und mitunter verzweifelte Transvestiten-Szene des Tokios der 60er Jahre, wo die ausgestoßenen, alternativen, unangepassten Außenseiter der Gesellschaft gegen jegliche Normen rebellieren. Als avantgardistisches Feuerwerk der Inszenierung ist die assoziativ montierte Geschichte mitunter schwer verständlich, doch Matsumotos Film erweist sich zwischen radikalen Stilbrüchen und spielerischen Meta-Ebenen als Liebeserklärung an eine unangepasste Subkultur, deren ganze Schönheit und zugleich Tragik der Regisseur trotz kalter Schwarz-Weiß-Bilder mit warmer Empathie erstrahlen lässt.

Autor: Patrick Reinbott
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