Der Traum versprach Aufbruch und Auflehnung. Der Traum versprach Selbstverwirklichung und Freiheit. Die Realität allerdings kippt diesen Traum, diesen amerikanischen Traum, in sein genaues Gegenteil. Das Richard-Nixon-Amerika in den 1970er Jahren, so wie der in Cannes mit dem Drehbuchpreis honorierte Der Eissturm porträtiert, zeigt eine Gesellschaft im emotionalen Gefrierzustand. Die Erwartungen, die Verheißungen, die Sehnsüchte, die an dieses Jahrzehnt gestellt wurden, sollten bereits im Jahre 1973 in unerreichbare Ferne gerückt sein. Oder anders gesagt: Sie sollten auf Eis gelegt werden. Der Schrei nach Unabhängigkeit jedenfalls verstummte zusehends. Und ausgerechnet ein taiwanesisch-stämmiger Filmemacher wie Ang Lee (Life of Pi: Schiffbruch mit Tiger) gleitet mit der chirurgischen Präzision eines Seziermessers durch die nationalen Befindlichkeiten jener Ära, um den Menschen dieses Landes unbeirrt den Spiegel vorzuhalten.
Der Titel ist Programm: Ang Lee zeichnet sich mit Der Eissturm für einen Katastrophenfilm verantwortlich, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinne. Die Schäden, die die Charaktere aber am Ende mit sich tragen, sind ungleich verheerender. Während Ben (Kevin Kline, Ein Fisch namens Wanda) eine Affäre mit der aufreizenden Nachbarin Janey (Sigourney Weaver, Aliens – Die Rückkehr) führt, versinkt Bens Frau Elena (Joan Allen, Raum) offenkundig in einer Depression. Sie redet kaum noch, trauert ihre Vergangenheit nach, verkapselt sich in ihrer Einsamkeit. Ang Lee sagte über seinen Film, dass dieser ein Amerika schildern würde, welches sich in der Adoleszenz befinden würde. Man kann diesen Gedanken dementsprechend auffassen, dass sich die Charaktere in einer Selbstfindungsphase befinden, die erst dann zu einem Ergebnis führt, wenn die alten Schalen aufgeplatzt sind.
Der Weg dorthin, die festgefahrenen Muster ihrer Lebenswirklichkeit zu zerschlagen, ist indes ein zermürbender. Ein Weg, der wahrscheinlich aus eigenem Antrieb nicht möglich wäre, aber durch die Kraft eines Naturspektakels womöglich angegangen werden kann. Einem Eissturm, der die emotionale Kälte endgültig zum Erstarren bringt und auf den entscheidenden Anstoß wartet, Risse zu ziehen und zerplatzen zu können – also die Figuren durch eine klare Gefühlsreaktion von ihrer Apathie zu erlösen. Bens Tochter Wendy (Christina Ricci, Buffalo '66) und Janey Söhne Mikey (Elijah Wood, Der Herr der Ringe-Trilogie) und Sandy (Adam Hann-Byrd, Das Wunderkind Tate) versuchen derweil den Versprechungen ihrer Dekade nachzukommen und ihren pubertären Bedürfnissen freien Lauf zu lassen: Eben als Adoleszente in einer adoleszenten Ära. Und doch geht auch in ihnen jeder Revolutionsgedanke verloren.
Die Isolation der Seelen nämlich schwillt sich aus der allgemeinen Kommunikationsunfähigkeit heraus nach und nach zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an – für jede Altersgruppe. Ang Lees subtile und durchweg introspektive Genauigkeit, soziale Strukturen feingliedrig aufzudecken, verhilft Der Eissturm zu dem Status, eine der nachhaltigsten Zustandsbeschreibungen einer gesellschaftlichen Vergletscherung zu werden, die das amerikanische Kino seit jeher zu Tage gefördert hat. Der fokussierte Blick auf einen Mikrokosmos im Mittelstand von Connecticut, transferiert sich gleichwohl zeitgenössisch auf das Gemeinwesen der Vereinigten Staaten: Die sexuelle Revolution verlautete den Zerfall von Bigotterie und Kleingeistigkeit. Nie wieder sollten individuelle Begierden verleugnet werden. In dem Versuch, diesem Anspruch auch gerecht zu verwenden, verschlossen sich die Menschen eigenständig hinter Mauern der Lethargie, der Entfremdung, der Lebenslügen. Zeit, diese Mauern einzureißen, ist der Preis dafür auch ein schwerwiegender.