6.1

MB-Kritik

Vier Fliegen auf grauem Samt 1971

Mystery, Crime, Thriller – Italy, France

6.1

Michael Brandon
Mimsy Farmer
Jean-Pierre Marielle
Aldo Bufi Landi
Calisto Calisti
Marisa Fabbri
Oreste Lionello
Fabrizio Moroni
Corrado Olmi
Stefano Satta Flores
Laura Troschel
Francine Racette
Bud Spencer
Dante Cleri
Guerrino Crivello
Gildo Di Marco

Inhalt

Schock statt Rock: Drummer Roberto verliert den Bezug zur Wirklichkeit und landet in einer Alptraumwelt. Alles beginnt mit einem unheimlichen Verfolger, der plötzlich tot am Boden liegt. Und mit einem maskierten Beobachter, der Roberto mit dem Mordwerkzeug fotografiert. Immer tiefer fressen sich Angst und Paranoia in seinen Alltag. Roberto fürchtet verdächtigt zu werden und beginnt ein Versteckspiel. Und irgendwie ahnt er bereits, dass am Ende dieser dunklen Straße etwas wartet, das sein Leben für immer verändert. Oder es beendet.

Kritik

Eine völlig entfesselte Bandprobe zu Beginn von Vier Fliegen auf grauem Samt genügt, um Dario Argentos (Suspiria)außergewöhnliches Verständnis für den Umgang mit inszenatorischen Mitteln des Mediums Film offenzulegen. In der mehrminütigen Sequenz zerstückelt der italienische Regisseur den Prozess des Musizierens zu einer fiebrigen Abfolge ausgefallener Einstellungen, für die Argento seine Bilder nicht nur im wilden Takt der jazzigen Rhythmik von Protagonist und Schlagzeuger Roberto anordnet, sondern die Kamera an den ausgefallensten Positionen und Winkeln montiert, so dass der Betrachter die Jam-Session unter anderem aus dem Inneren einer Gitarre heraus verfolgt.

Es ist ein getriebener Auftakt, bei dem der Regisseur zwischen den Szenen der Bandprobe kurze Einstellungen von Roberto aufblitzen lässt, in denen sich der Schlagzeuger offenbar von jemandem verfolgt fühlt. Argento nutzt die rohe, schweißgetriebene Energie der dabei entstehenden Musik, um das Gefühl von Paranoia und Verfolgungswahn der Hauptfigur auf intensive Weise in ein desorientierendes Delirium zu überhöhen. Mit seinem unnachgiebigen Ansatz eines Kinos, das fernab von rationaler Logik und konventionellen Handlungsmustern rein audiovisuell auf den Zuschauer einwirken oder viel mehr hereinbrechen soll, machte Argento bereits mit seinem beachtlichen Debüt Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe auf sich aufmerksam, welches das Sub-Genre des Giallo neben den Werken von Mario Bava (Blutige Seide) entscheidend mitprägen sollte. 

Im Vergleich zur inszenatorisch ausgefallenen Raffinesse dieses Erstlingswerks entpuppte sich der Nachfolger Die neunschwänzige Katze, der zugleich den zweiten Teil von Argentos sogenannter Tier-Trilogie darstellte, als überwiegend uninspirierter Krimi, dem die markante Handschrift des Regisseurs nur in wenigen Szenen anzumerken war. Der dritte und letzte Teil der Tier-Trilogie markiert somit eine gelungene Rückkehr zu Argentos anfänglichen Markenzeichen als Regisseur, mit denen der Italiener in dem 1971 veröffentlichten Film noch zu experimentieren schien, um sie in darauffolgenden Glanzstücken wie Profondo Rosso - Die Farbe des Todes noch staunenswerter zu perfektionieren.

Die Geschichte von Vier Fliegen auf grauem Samt beginnt damit, dass Roberto glaubt, versehentlich einen mysteriösen Verfolger getötet zu haben, wobei er wiederum von einem Unbekannten im Puppenkostüm fotografiert wurde. Dieses aufdringliche Phantom lässt ihm anschließend Drohbriefe zukommen, die Robertos psychischer Verfassung vermehrt zusetzen. Wiederkehrende Albträume einer orientalischen Enthauptungszeremonie, die in gleißendem Licht durchgeführt wird, wechseln sich mit gelegentlich eingestreuten Szenen ab, die sich nie eindeutig der Gegenwart oder Vergangenheit zuordnen lassen und in denen eine Person scheinbar gegen ihren Willen in eine Gummizelle eingeschlossen wird.

Diese surreal inszenierten Einschübe, mit denen Argento die Linearität der Geschehnisse durchbricht und bewusst Verwirrung stiftet, lenken den Fokus des Betrachters ebenso von der eigentlichen Handlung ab wie sonderbare Nebenfiguren sowie skurrile Zwischentöne. Ein von Roberto beauftragter, homosexueller Privatermittler, der als grotesk überzeichnetes Klischee durch seine Szenen irrt, erweist sich als ebenso irritierende Randnotiz wie die Auftritte von Bud Spencer (Zwei wie Pech und Schwefel) als Robertos Freund Gottfried, dessen Spitzname (Gott) schon alleine für einen amüsanten Witz sorgen soll.  

Meist sind es jedoch gerade die schlichten Figuren und unbeholfenen Dialoge, die der Regisseur in Kombination mit seiner vergessenswerten bis abstrusen Rahmenhandlung zu vernachlässigbaren Filmelementen herabstuft. Im Mittelpunkt von Vier Fliegen auf grauem Samt wohnt der Betrachter neben dem atmosphärisch verunsichernden Grundton stattdessen besonders ausgefeilten set pieces bei. In diesen fetischisiert Argento gemeinsam mit Ennio Morricones brillanter Musikuntermalung die zwischen nervöser Anspannung sowie panischer Todesangst pendelnde Verfassung seiner Mordopfer in ausgedehnten Spannungssequenzen und transformiert gewöhnliche Schauplätze mithilfe von Kamerakunststücken zu abstrakten Konstrukten, in denen die Enge sowie Ausweglosigkeit labyrinthische Ausmaße annimmt, bis der Regisseur die Sequenzen konsequent explodieren lässt und genau zum richtigen Zeitpunkt abblendet. 

Wenn sich Argento gegen Ende des Films schließlich um eine Auflösung der Mordfälle und somit um die Enthüllung der Identität des Täters bemüht, verkommt der Film aufgrund eines hanebüchenen Drehbucheinfalls beinahe endgültig zur albernen Farce. Im Finale selbst, in dem Roberto bewusst wird, dass er durch seine eigenen Augen einer Täuschung aufgesessen war, findet der Regisseur hingegen einen mehr als adäquaten Ausdruck für die manipulative Macht des Kinos, mit dem Argento den Zuschauer hier so geschickt in seine inszenatorischen Tricks und Kniffe einwickelt.

Fazit

Im anfänglichen Schaffen von Dario Argento markiert „Vier Fliegen auf grauem Samt“ ein überaus gelungenes Werk, in dem der italienische Regisseur perfide zwischen kunstvollem Giallo, paranoidem Delirium und wirrem Thriller pendelt. Wer über Argento-typische Schwächen wie dürftige Figuren, hölzerne Dialoge sowie bisweilen abstruse Wendungen und Einschübe hinwegsehen und sich voll und ganz der hypnotischen, fiebrigen Inszenierung hingeben kann, erlebt ein außergewöhnliches Kleinod der frühen 70er Jahre, das in dieser Form eben nur von Argento stammen kann.

Autor: Patrick Reinbott
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