Früher, gerade in seinen ersten Schaffensjahren, war der ungemein arbeitswütige Takashi Miike (über 90 Filme in knapp 25 Jahren!) noch ein Filmemacher, der den Zuschauer versuchte herauszufordern; der ihn an persönliche (Geschmacks-)Grenzen und auch darüber hinaus führte. Seine Filme waren rebellisch, subversiv, lehnte sich auf gegen die glattgebügelte Konformität auf, forderten letzten Endes aber nicht nur die viel Kraft ein, sondern zeigten sich auch gütig daran, dem Zuschauer neue Erkenntnisse zu schenken, Blickwinkel auszudehnen und Interpretationen einzufordern: Ein Kino, das ganz und gar nach eigenem Kopf verfuhr, aber durchaus Wert darauf gelegt hat, die Meinung des Zuschauers in Erfahrung zu bringen, sollte dieser sich denn in der Lage dazu erwiesen haben, das Gesehene zu reflektieren. Heute ist es weit aus ruhiger um Takashi Miike geworden, der wie sein Kollege Kar Wai Wong am liebsten bebrillt agierende Japaner ist gerngesehener Gast auf diversen Filmfestivals und gilt allgemein nicht mehr als eine Person, vor der man sich doch besser in Acht nehmen sollte.
Die polarisierenden Wogen haben sich ein Stück weit gelegt, sind zum Glück aber nicht gänzlich abgeflacht, wie man zuletzt am zynischen „Lesson of the Evil“ feststellen durfte. Tinte hat der Mann durchaus noch auf dem Füller, er scheint zuletzt aber noch versessener darauf gewesen zu seinen, stilistisch neue Wege zu beschreiten, als dass er in für ihn bekannten Gewässern weiterhin sein „Unwesen“ zu treiben gedenkt. Mit seinem letzten Film „Wara no tate – Die Gejagten“ kam es aber hierzulande dann überraschenderweise zu einer kleinen Sensation: Seit über zehn Jahren hat es kein Film von Miike geschafft, eine Kinoauswertung zu ergattern, das prinzipiell auf die Gepflogenheiten des Mainstreams ausgerichtete Moralstück „Wara no tate – Die Gejagten“ hingegen durfte auch in Deutschland über die großen Leinwände flackern. Ob das nun Sinn ergeben hat, muss auf einem Blatt Papier abgehandelt werden, finanziell mit Sicherheit nicht, doch „Wara no tate – Die Gejagten“ ist letztlich ein sehenswerter Film geworden, der den einst so charakteristischen Wahnsinn Miikes vermissen lässt, dafür über seine 120-minütge Laufzeit durchaus ansprechende Gewissensfrage offeriert.
Dass sich Takashi Miike mit „Wara no tate – Die Gejagten“ in die Tradition des japanischen Polizeifilmes wagen würde, würde wenig Verwunderung nach sich ziehen, ist das beinahe 55-jährige Multitalent doch ein wahrer Tausendsassa und in vielerlei Genres zuhause: Die Absenz einer Handschrift kann man dahingehend sowohl als Fluch wie Segen auslegen, seiner Unberechenbarkeit jedoch muss man gehörigen Respekt zollen. So ist „Wara no tate – Die Gejagten“ eben auch kein altbackener Polizei-jagt-Verbrecher-Flic, sondern nach kurzer Exposition schnell darauf konzentriert, seine Charakter introspektiv zu porträtieren. Kunihide Kiyomaru (Tatsuya Fujiwara) ist unlängst berüchtigt für seine Taten, vergeht er sich doch aufs Bestialischste an Kindern, dass ihm dieses Mal aber die Enkelin eines vermögenden Finanziers (Tsutomu Yamazaki) zum Opfer fiel, macht ihn von Jetzt auf Gleich zum wahren Objekt der Begierde einer horrenden Menschenjagd, stellt ihr Onkel doch ein fürstliches Kopfgeld auf seine Person aus. Dass sich Kiyomaru in die Arme der Polizei gibt, um sich vor dem schäumenden Lynchmob zu retten, tut nichts mehr zur Sache, hat man ihn aufgrund der Samenspuren im Gesicht des toten Mädchens ohnehin längst überführt und zum Tode verurteilt.
Unter der Führung des (natürlich) traumatisierten Polizisten Mekari (Takao Osawa), soll Kiyomaru nach Tokio gebracht werden, wo ihm der Prozess gemacht wird. Dass „Wara no tate – Die Gejagten“ seiner High-Concept-Veranlagung in der ersten halben Stunde freudig in die Arme läuft, ist Bestandteil der doppelbödigen Konstruktion, mit der Miike seine Geschichte formt und entwickelt. Nach einem spektakulären Set Piece, in dem ein mit Nitroglyzerin beladener Tanklaster in einen Polizeikonvoi knallt, um sich dann inmitten tosender Feuerbrunst zu überschlagen, schlägt „Wara no tate – Die Gejagten“ fortan ruhigere Töne an, wenngleich eine knackiger Schusswechsel in einem Zugabteil nochmal für etwas Dampf sorgen darf. Miike ist viel mehr am Innenleben seiner allegorischen Figuren interessiert und modelliert aus dem oberflächlich als massentauglicher Thriller deklarierten Stoff einen durchaus packenden, von pulsierenden Emotionen aufgeladenen Moraldiskurs, der seine Beteiligten gefährlich nahe an der Grenze zur Karikatur wandeln lässt, im Endeffekt aber moralische Engpässe nachempfindet, die Zwistigkeit zwischen Ethik und Raffgier thematisiert und „Wara no tate – Die Gejagten“ auch als (gesellschaftstheoretisches) Paranoia-Kino definiert, bevor er gegen Ende etwas zu deutlich mit der Märtyrerparabel kokettiert.