Inhalt
Seit über drei Monaten ist der kurdische Teenager Bilal schon auf der Flucht. Zu Fuß schaffte es der 17-jährige auf abenteurlichen Wegen vom Irak durch ganz Europa bis an den Ärmelkanal. Er hat sein Land verlassen, nachdem seine Freundin Mîna kurz zuvor nach England emigriert ist, um sie wiederzusehen und um in England eine Fußballkarriere zu starten. Doch an der Nordküste Frankreichs nimmt seine Reise ein abruptes Ende. Hier geht es für ihn nicht weiter. Bilal und seine Freundin trennt nun, mitten in der kalten Jahreszeit, der von starkem Nordwestwind aufgewühlte Ärmelkanal. Bilal ist in Calais gestrandet. 34 Kilometer liegen zwischen ihm und der nächstgelegenen englischen Stadt. Kurzentschlossen sucht der Junge das örtliche Hallenbad auf, um das Schwimmen zu trainieren. Hier lernt er den Schwimmlehrer Simon kennen, einen ehemaligen Topschwimmer, der jetzt vom Unterrichten lebt. Simon lebt gerade in Scheidung, liebt seine Frau Marion aber immer noch und würde sie gerne zurückgewinnen. Er freundet sich mit Bilal an, der ihm schließlich von seinen Absichten berichtet: Heimlich unterrichtet er den jungen Kurden im Kraulen…
Kritik
Das Welcome taucht in Philippe Liorets nüchternem Drama nur als Aufdruck einer Fußmatte auf. Die Tür dahinter wird in der Szene zugeschlagen. Das Willkommen für den Flüchtling vor England ist kalt wie das Wasser des Ärmelkanals. Der Begriff ist zur abgenutzten Floskel geworden und wird sinnbildlich mit Füßen getreten. 32 Kilometer trennen Bilal (Firat Ayverdi) von seinem Ziel. 32 Kilometer, die eine Welt ausmachen. Die Distanz ist die des Ärmelkanals, der zwischen dem 17-jährigen Flüchtling und seiner in England lebenden Freundin Mina (Derya Ayverdi) liegen. Nach einem gescheiterten Einreiseversuch wartet auf Bilal die Abschiebung aus Calais. In seiner Verzweiflung fasst er den Entschluss, den Kanal zu durchschwimmen und nimmt Unterricht bei dem ehemaligen Schwimmmeister Simon (Vincent Lindon). Eine Mischung aus Freundschaft und Vater-Sohn-Beziehung entsteht zwischen den beiden, die jeder auf seine Weise von einem geliebten Menschen getrennt sind.
Mehr Raum als der Sozialproblematik gibt der Plot seinen Protagonisten. Besonders Hauptdarsteller Lindon gelingt das einfühlsame Porträt eines vom Leben Enttäuschten. Er habe ihn nicht aufhalten können, sagt Simon zu Mina und belügt damit sie und sich selbst. Er hat Bilal ermutigt, indem er ihm das Gefühl gab, er könne es schaffen. Indirekt knüpft sein Verhalten an den missbräuchlichen Umgang der Allgemeinheit mit den Flüchtlingen an. Gerade die Ausweglosigkeit von Bilals Unterfangen weckt Simons Engagement. Wenn der Jugendliche es schafft, den Kanal zu durchschwimmen, könnte auch er sein Leben wieder einrenken, scheint Simon zu glauben. Trotz seiner spürbaren Länge und einer zunehmenden Abwendung vom politischen Kontext gelingt es der tragischen Story dank der stimmigen Inszenierung zu bewegen. Fast dokumentarisch muten die Szenen bisweilen an. Lioret scheut die gesellschaftliche Provokation nicht. Er zeigt am Ufer von Calais die endlosen Schlangen wartender Flüchtlinge. Er zeigt die brutale Diskriminierung von Einwanderern und er zeigt die Strafverfolgung, unter der alle, die den Geflüchteten helfen, und sei es nur mit Essensausgabe und Unterkunft, leiden müssen.
Es sind bekümmernde Bilder, heute noch mehr als damals, weil man sie nun mit dem Bewusstsein sieht, dass die Zugereisten noch weit schlimmer behandelt werden. Gewissenhaft vermeidet der Regisseur einen pamphletistischen Tonfall oder eine Märtyrerfabel. Das Unterfangen bleibt eine Verzweiflungstat, eine unsinnige Idee, an die der Jugendliche sich klammert, um irgendeine Hoffnung zu haben. Niemand außer Simon trauert Bilal nach. Ein Einwanderer weniger scheint sich sein Umfeld zu denken. Die graue Kälte der See wird zur Allegorie des menschenverachtenden Gesellschaftsklimas. Willkommen war er ohnehin nicht. Vielleicht ist es nicht trotz, sondern gerade wegen dieser dramaturgischen Zurückhaltung, dass der Film seinerzeit zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion wurde. Der überraschende Erfolg des Dramas sowie eine Auseinandersetzung mit dem französischen Einwanderungsminister Eric Besson führten zu einer politischen Debatte um die rechtsstaatliche Kriminalisierung der Flüchtlingshilfe. Anlässlich einer Initiative zur Änderung des Paragrafen wurde das Drama im französischen Parlament vorgeführt. Die Zeit scheint reif für eine Wiederaufführung.
Fazit
Frei von heuchlerischem Sentiment inszeniert Lioret zwei Dramen: das einer ungleichen Freundschaft und das eines komplexen politischen Problems. Doch das präzise gespielte Drama verfehlt seine Wirkung auch ohne den Katalysator der Realität nicht.
Autor: Lida Bach