Ein unerbittlicher Sturm tobt über einem in weißen Schnee gehüllten Berg. Ein alter Mann, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann, und ein kleines Mädchen, das so eben zur Waise wurde. Es beginnt nicht nur eine kohorative Geschichte über das Volk, sondern auch über seine Beziehung mit dem Land und das Land selbst. Iya ist, obwohl es dieses Tal natürlich gibt, filmintern mehr oder weniger eine fiktive Semipräfektur, der Tunnel die manifestierte Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne. Hier ist es nur Sommer oder Winter, kein Zwischenschritt, kein stetiger Übergang. Genau wie Japan selbst, von der Feudalzeit in die Moderne katapultiert, ohne mit der Situation umgehen zu können. Es herrscht wirtschaftlicher Sommer und emotionaler Winter. Wie die Kamera das satte Grün, die zwitschernden Vögel und das kristallklare Wasser aufsaugt, mag aus interpretatorischer Sicht und für den Moment vielleicht überromantisiert und das idyllische Bergleben übertrieben autark erscheinen, ist aber schlichtweg atemberaubend schön und vor allem unentbehrlich für die Botschaft.Haruna (Frühling) ist, ganz im Sinne von Rousseau, zwischen den Jahreszeiten gleichsam hin- und hergerissen, in ihrer Brust schlagen zwei Herzen, einerseits die junge Neugier für das Leben jenseits des dunklen Tunnels und weit weg von Iya, doch in ihr wurzelt ebenso ein enormes Pflichtbewusstsein und die starke familiäre Bindung zu ihrem Großvater. Die Mononokehime von Iya, wie sie liebevoll von den Dorfbewohnern genannt wird, repräsentiert im Endeffekt genau den komplexen Zwiespalt und Kampf, den Japan mit sich selbst führt. Generell sind es Fragen, die, bei Erweiterung, alle einmal stellen. Wer bin ich? Welchem Pfad soll ich folgen? Wenn man sich nach der Identität fragt, kommt man in ein Labyrinth, aus dem man nicht mehr herausfindet. Womit identifiziert man sich denn überhaupt? Mit der zufälligen Geburt, die das Leben schon zu einem großen Teil bestimmt? Mit dem Werdegang des Lebens, der ebenfalls durch einen Großteil äußerer Faktoren, seien es nun Werteerziehung, moralische Instanzen oder schlicht soziale Umfelder geprägt ist? Gerade beim Verlieben, wenn sich zwei Menschen nähern und aus zwei Seelen eine wird. Wenn wir keine Antworten finden - und das tun wir nicht - müssen wir uns fragen, ob wir überhaupt die richtigen Fragen gestellt haben. Ist Identität nicht lediglich eine abstrakte Konstruktion? Der Mensch atmet, leidet, liebt, leibt, erkrankt und verwelkt schließlich, ist aber stets unzufrieden mit dem nackten Sein, möchte sich einfach nicht damit zufrieden geben, in einer physischen Welt physisch zu bleiben. Schnell geht es in eine Konfusion über, einem äußerlichen Druck, sich zu beweisen, jemand zu sein. In der modernen Welt, in der man sich über Position, Verdienst und Haus definiert, wo ist da noch der Raum für wahre Authentizität? Der Wendepunkt im späteren Verlauf, in dem Haruna, die in der menschenüberfüllten Metropole längst die Einsamkeit und Nichtigkeit des Individuums erfährt, ziellos - fast geisterhaft - durch die großen, dunklen Straßen irrt und feststellt, dass diese sophistische Welt, wie sie längst Einzug hielt, sich mit den möglichen Änderungen gar nicht auseinandersetzen möchte, noch nicht bereit ist, im Gegenteil: Sie sogar zu unterdrücken versucht, ist ohne Frage die ergreifende und meditative Kulmination des Filmes, voller Klarheit, Stille und sanfter Melancholie. Aus Sicht des Mädchens völlig unverständlich, wie dieses doch eigentlich offensichtliche Desiderat widersprüchlich mit Füßen getreten und aller Kraft ferngehalten wird. Der Fluss erwacht zum Leben und das leuchtende Wasser führt sie zu sich selbst, völlig verrottet in einem Tunnel, nur noch eine verlassene und leblose Marionette, vollständig eingespeist und eine direkte Projektion des bürokratischen Apparats.Interessant ist auch, dass die Leiterin eben dieses Projekts gerade von Naomi Kawase verkörpert wird, die die Kavitation des Herzens, also den zentralen Sachverhalt von Tale of Iya, schon einige Jahre zuvor in Nanayomachi und Suzaku dechiffrierte und damit wesentliche Beiträge zum zeitgenössischen japanischen Kino schaffte: "We´re blessed, but we lack the warmth." Am Ende gibt es demzufolge nur eine Möglichkeit...Okaeri Haru-chan.