“Apparantly it’s important to be here.”, sagte Christoph Terhechte zu Beginn von DOK Leipzigs Preisverleihungszeremonie. Diese ist ein Stück Abschiedsveranstaltung für den Noch-Direktor des Film Festivals, der nach fünf Jahren aus privatem Anlass vorzeitig seine Aufgabe niederlegt. So motivierte womöglich mehr Sentimentalität und Schöndenken statt Sarkasmus die Worte. Jene wirkten angesichts des halb leeren Saales mehr wie Fiktion, die in dem traditionell einwöchigen Festival für dokumentarische und animierte Filmformen in den Hintergrund treten sollte. Auf der mit Goldlametta dekorierten Bühne des Theaters Schaubühne, wo am Samstag in den wichtigsten Wettbewerbskategorien die Goldenen und Silbernen Tauben vergeben werden, sah es kaum besser aus. Die Hälfte der ausgezeichneten Filmschaffenden ist schon abgereist. Die spannendsten Newcomer und prominentesten Größen der zeitgenössischen Dokumentarfilmischaffenden fanden sich in diesem Jahr noch eher auf anderen Festivals.
Wer keine Vertretung aus dem Film-Team parat hat, schickt einfach ein Handy-Video. So wie das Regie-Duo Peter und Seth Scriver, deren sozialkritischer Sundance ErfolgEndless Cookieals bester internationaler Animationsfilm ausgezeichnet wurde. Die Remote-Rede anstelle einer persönlichen Danksagung scheint traurig passend angesichts des Online-Angebots, das den physischen Filmvorführungen zunehmend Konkurrenz macht. Teil der Filmvorführungen ist als Stream verfügbar; für die Presse sind es sogar ganze 87 Filme. Ob Akkreditierte da noch tatsächlich vom Festival berichten, oder mittels Streaming, Abschreiben von Pressemeldungen und Zoom-Calls statt realer Interviews eine unmittelbare Festival-Erfahrung nur vorgaukeln, lässt sich von der Leserschaft und dem DOK Presseteam unter solchen Konditionen kaum nachvollziehen.
So ist der Wechsel der Leitung des Festivals, das ab 2026 die langjährige Leiterin des deutsch-polnisch-tschechischen Neiße Filmfestivals, Ola Staszel, übernehmen wird, auch Anlass zur Hoffnung auf eine konsequente Kino-Ausrichtung, sowohl für Publikum als auch für Presse. Nur vor Ort gibt es zudem die das Programm erweiternde Ausstellung mit VR und XR Installationen in den stimmungsvollen Räumlichkeiten der Heilandskirche und des Museums der Bildenden Künste. Eine ungewöhnlichere Spielstätte ist die im Umland gelegene Jugendstrafanstalt Regis. Dort kann ein Zivilpublikum bei „DOK im Knast“ einen von den Inhaftierten ausgesuchten Festival-Film gemeinsam mit diesen schauen. In diesem Jahr fiel die Wahl auf Laura CoppensSedimenteüber die mit der Landesgeschichte verflochtene Biografie des Großvaters der Regisseurin.
So lobenswert es scheint, jungen Menschen in Haft einen Ausblick aus der internierten Monotonie zu bieten, so ambivalent wirkt die Veranstaltung. Deren Popularität bei den zivilen Zuschauenden liegt wohl kaum am Film. Designierte Pressekarten gibt es nicht, ein Gespräch mit Verantwortlichen war dieses Mal nicht möglich und wer nicht lange im Voraus bucht, hat keine Chance auf das Event. Jenes wirft grundsätzlich die Frage auf, wer oder was hier eigentlich vorgeführt wird: der Film, die Haftanstalt oder am Ende die Inhaftierten? Obwohl es keine genauen Zahlen gibt, erhält nach Schätzungen ein Großteil der in Deutschland Inhaftierten selten bis nie Besuch. Zwischenmenschliche Bindungen sind es somit kaum, die den Besucherstrom anziehen. Das wirft grundlegende Fragen auf nach der Faszination realer menschlicher Krisen und dem Umgang mit dieser.
So wirbt ein Mitglied des Presseteams für ein Interview zur Präsentation eines „sozialen“ Projekts. Dessen Industry-Akkreditierte entwickeln eine App (das Projekt ist also unabhängig vom Festival selbst), die dem Publikum eines Dokumentarfilms per QR eine Direktspende ermöglicht. Die Ähnlichkeit zu Methoden von Angel Studios, die ihre fundamentalistischen Filmschaffenden mit vergleichbaren Mitteln pushen, stimmt nachdenklich. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Materie einer Doku wird durch solche Konzepte tendenziell ausgehebelt. Ein Klick, ein paar Euro gehen irgendwo hin und das schlechte Gewissen ist beruhigt. Ob die vorgeführte Filmauswahl mit ihrer in der Festivallandschaft einzigartigen Kombination von Animation und Dokumentation das Publikum ausreichend involviert, bleibt abzuwarten. Die dokumentarischen Highlights zieht es weiter zu Sundance, Tribeca und Hot Docs sowie in Europa zu CPH:DOX und Vision du Réel.
Die spannendsten Beiträge der vom 27. Oktober bis 2. November gefeierten 68. Ausgabe hatte alle ihre Weltpremiere - teils vor Jahren - bereits auf anderen Festivals. So auch der Gewinner in der Kategorie Bester Internationaler Dokumentarfilm, Ivan RamljaksPeacemakerüber den ermordeten kroatischen Polizeichef und Friedensaktivisten Josip Reihl-Kir. Die Goldene Taube für den besten langen Dokumentarfilm eines Regietalents im Nachwuchsbereich ging an Gregor Brändli für Elephants & Squirrels, der sich mit dem kolonialistischen Erbe der Schweiz befasste. Würdige Gewinner, aber dennoch nicht so eindringlich wie die dokumentarischen Beiträge auf Sundance & Co. Viel zu tun für die neue Festivalleitung, aber ebenso viel Potenzial. Frischer Wind kann dem Festival, das sich (trotz berechtigter Zweifel) als weltweit ältestes im Bereich Dokumentarfilm präsentiert, nur guttun.