Tatsächlich ist Agnieszka Smoczyńskas biografisches Drama mehr phantastisches Psychogramm als Genrefilm. Aber die wahre Geschichte dahinter ist dermaßen creepy, dass sie für die Abwesenheit filmischer Schauer entschädigt. Vermutlich haben die wenigsten hier das Schwesterndrama gesehen, aber keine Sorge: Das darin dramatisierte Phänomen kennen dank Todd PhillipsJoker Sequel wohl alle. Folie à Deux. Die 1993 im Yemen geborenen und aufgewachsenen Zwillinge June und Jennifer Gibbons entwickelten aufgrund einer Reihe psychosozialer und familiendynamischer Faktoren - darunter massives rassistisches Mobbing - Cryptophasia (eine meist vereinfachte Sprache, die ausschließlich von Zwillingen untereinander angewandt und verstanden wird) und Idioglossia (eine nur von zwei oder einer Person gesprochene Sprache und korrespondierende Bewegungen). 

Beides ist bei Zwillingen nicht ungewöhnlich - doch die Ausprägung bei den Gibbons-Schwestern war extrem. Ihr Geheimcode bestand nicht aus simplen Fragmenten, sondern einer komplexen Sprache. Jene wurde bald zur einzigen verbalen Äußerung der Mädchen, die ab ihrer Grundschulzeit nur noch miteinander und auf ihre Art redeten. Diese Kommunikation war oft so subtil, das sie nach außen hin nicht wahrnehmbar war und geradezu telepathisch wirkte. Ein Eindruck, den synchrone Bewegungs- und Verhaltensabläufe verstärkten. Jennifer war von jeher die dominantere der beiden und diktierte Junes Leben. Eingeschaltete Kinderärzt*innen und Psycholog*innen äußerten unabhängig voneinander, June sei von Jennifer „besessen“, und es fällt schwer für das beschriebene Benehmen einen anderen Ausdruck zu finden. 

Als die Zwei als Teenager versuchsweise auf ihr eigenes Bitten hin getrennt wurden, fiel June in Katatonie, die erst mit der Rückkehr zu Jennifer endete. Beide landeten schließlich in der berüchtigten Broadmoor Hochsicherheits-Anstalt ohne Aussicht auf Entlassung. Durch das Engagement einer Reporterin wurde schließlich ihre Verlegung bewirkt. Die jungen Frauen hatten ihre fatale Co-Abhängigkeit längst erkannt und wussten, dass sie weder miteinander noch ohne einander leben konnten. Ohne erkennbare medizinische Ursache verstarb Jennifer auf dem Weg in eine weniger üble Anstalt an Herzversagen. Wie June, die sich danach mental stabilisierte und ein selbstständiges Leben begann, später in einem Interview sagte, „weil wir es so entschieden haben“.