Erwähnungen
Jean-Pierre Melville: 100th Anniversary Edition - Kritik - Teil 2
Von Vitellone in Jean-Pierre Melville - 100th Anniversary Edition - Kritik
am Sonntag, 10 Dezember 2017, 15:52 Uhr
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Der Teufel mit der weißen Weste
Jean-Pierre Melville, voll in seinem Element. Desillusionierte Figuren in einer Hechtsuppe aus dichtem Nebel und dunklen Schatten, Einzelgänger in einer Parallelwelt zur normalen Gesellschaft. Vertrauen ist schwer, Verrat wiegt noch viel schwerer. In einer formalen Perfektion, stilisierter Eiseskälte liegt der Fokus immer auf zwischenmenschlichen Zwickmühlen. Seine Figuren gehen nicht in der Präsentation unter, ihre Verbindungen und Schicksale sind ihm mindestens genauso wichtig, wenn nicht sogar deutlich relevanter. Das Finale, in dem sich das eigentlich schon lange gefestigte und nur leicht unscharfe Bild in ein komplexes Puzzle verwandelt, erzeugt in wenigen Minuten eine fast schockierende, auch jeden Fall ergreifende Tragik. Jetzt erst wird jedem klar, wie wunderbar und gleichzeitig hinterhältig man hier in Sicherheiten gewogen wurde, wie man auf einfache Illusionen hereingefallen ist und wie simpel es doch letztlich ist. Das Schlimme dabei: Für uns hat es den positiven Effekt der Überraschung, für die Figuren ist es nun zu spät. Die Kettenreaktion wurde schon gestartet und sie aufzuhalten scheint unmöglich. Hier schließt sich wieder der Kreis. Vertrauen und Misstrauen, Loyalität und Verrat, Freundschaft und Feindschaft, Leben und Tod. Alles liegt so dicht beieinander.
Was Melville in diesem von Pessimismus gezeichnetem Szenario mit Bravour gelingt ist – neben der umklammernden Atmosphäre, die die Spannungsschrauben immer in den richtigen Momenten anzieht, ohne aber das ruhige Tempo des Films zu verleugnen – ist die Charakterzeichnung. Melville hat auf die nüchterne Beobachtung bestanden, seine Charaktere zeigen nach außen keine Emotionen und folgen ihren individuellen Idealen, auch wenn sie schlussendlich in die resignierende Selbstzerstörung führen. Hier gibt es keine Un- oder Übermenschen, keine Helden, keinen Patriotismus. und wo andere Résistance-Filme nicht um die nationale Glorifizierung herumkamen, konzentriert sich Melville vielmehr auf die seelischen Dispute und die moralischen Zwickmühlen, die sich immer weiter öffnen und dem schmerzhaften Ende konsequent die Arme laufen.
Es sind genau diese, sich immer wieder verschiebenden und überlagernden Machtverhältnisse zwischen europäischem Arthouse- und amerikanischen Genre-Film, der die Werke von Melville zu zeitlosen und trotz ihrer oftmals eher einfachen Prämisse auch geistvollen Filmen macht, die längst zum gängigen, historischen Kanon des französischen Kinos gehören. Mit Vier im roten Kreis lieferte Melville vielleicht sogar seinen besten Film. Ein unterkühltes, von roher Nonchalantes durchzogenes Protokoll eines kriminellen Coups, der - ganz den Genre-Regeln entsprechend – gründlich in die Hose geht. Doch mehr noch als das, erweist sich der Kriminaldrama auch als Abhandlung über den Zufall und damit auch über das Schicksal. Eine klare Beobachtung von vier verschiedenen Männern, die nicht für alle Beteiligten gut enden wird. Daran lässt die erzeugte Stimmung des Films von Beginn an keinen Zweifel.
Mit seiner letzten Arbeit, Der Chef, kehrt der französische Regisseur ein letztes Mal in diesen von ihm so geliebten Kosmos zurück. Von Beginn an erstrahlt der Film in einem eisigen Blau und fängt ein nasskaltes Paris fernab jener Urlaubsromantik ein. Die verregneten Straßen, verrauchten Bars und sterilen Räume werden zum Sinnbild einer elegischen Welt und spiegeln dabei das Innenleben aller Beteiligten wieder. Mit Anzug, Mantel, Hut und Sonnenbrille verkörpern sie jene klassische Eleganz, die bei Melville zum filmischen Paradebeispiel von Coolness herangereift ist. Für echte Emotionen ist darin nur wenig Platz, und wenn, dann gilt es diese nicht offen zu zeigen. Letztlich ist jede Beziehung eben doch nur ein Wagnis, jeder Kontakt ein Risiko. Welchen Wert hat ein anderes Menschenleben? In der Welt von Melville ist dieser nur so hoch, wie er einem selbst nützen kann. Das Werk ist ein Spiel gegen die Zeit, noch dazu mit doppeltem Boden und nichtsdestotrotz schweift Melville gelegentlich etwas ab. Neben langen Einstellungen arbeitet er vor allem mit interessanten Schnittfolgen, die Perspektiven verändern und den Zuschauer explizit in die Rolle bestimmter Figuren versetzen. Die wahre Tragik der Geschichte eröffnet sich früh für den Zuschauer, doch bleibt den leidtragenden Figuren lange ein Mysterium.
Blu-ray
Die Jean-Pierre Melville Edition wurde von STUDIOCANAL anlässlich dessen 100sten Geburtstag veröffentlicht und ist seit dem 02. November im Handel erhältlich. Die auf Blu-ray restaurierten Werke überzeugen durch eine ordentliche Bild- und Tonqualität. Ihrem Alter entsprechend erstrahlen die Filme in ihrer bestmöglichen Form. Zusätzlich zu den teilweiße erstmals in Deutschland erhältlichen Filmen, darf man sich auf folgendes Bonusmaterial freuen: Ein Interview mit Bernard Stora und Jose Giovanni, eine Masterclass mit Philippe Labro und Rémy Grumbach, die Features „Armee im Schatten": Zum Hintergrund der Geschichte, „In the mood for Melville“, "Codename Melville" und „24 Stunden im Leben eines Clowns“ sowie eine Einführung von Ginette Vincendeau.
Fazit
Sowohl Neueinsteiger als auch Fans von Melville dürften mit der neunteiligen Edition zufrieden sein und diese bald als Neuzugang in der heimischen Sammlung willkommen heißen. Zwar fehlen einige Filme aus Melvilles Gesamtwerk, allen voran der großartige eiskalte Engel, von dem es hierzulande noch immer keine Veröffentlichung gibt, für einen Preis von aktuell 60€ lohnt die Box jedoch allemal. Neben der hochwertigen Verpackung und den neun Filmen, die allesamt zumindest sehenswert und zum Teil gar Meisterwerke sind, darf man sich außerdem über umfangreiches Bonusmaterial freuen. Nicht die schlechteste Idee für das anstehende Weihnachtsfest.
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