Erwähnungen
"Anno 117" - Videospiel - Test / Review
Von OnealRedux in Videospiel "Anno 117" im Test
am Sonntag, 30 November 2025, 21:52 Uhr
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Hier noch eine kleine Optimierung, hier noch eine Insel, da ein Feuer löschen und hier brauch ich noch ein paar weitere Wohnhäuser: Ich habe mich dabei regelmäßig ertappt, wie ich Ausreden erfunden habe, um noch „kurz“ im Spiel zu bleiben – oder wie ich einfach komplett die Zeit vergessen habe. Anno 117: Pax Romana ist eines dieser Spiele, die die Zeit "relativ" auf den Kopf stellen und wie ein schwarzes Loch mit Sogwirkung funktionieren. Kaum sitzt man im Statthaltersessel, vergehen Stunden um Stunden. Und während draußen längst die Nacht anbricht, wächst drinnen ein Imperium aus Stein, Marmor und Größenwahn. Genau darin liegt die größte Stärke dieses Anno-Teils: Er verschluckt einen – und lässt erst wieder los, wenn man sich selbst mit Gewalt aus den Straßen Roms reißt. Seit dem 13. November ist das Spiel erhältlich und wir haben uns einmal Insel für Insel umgesehen.
Test
Das Setting könnte indes nicht treffender gewählt sein: Das Jahr 117 nach Christus steht sinnbildlich für den Höhepunkt römischer Macht, Ordnung und Selbstverliebtheit. Das Reich war so groß wie nie, der Frieden so stabil wie selten – perfekte Voraussetzungen, um nicht zu kämpfen, sondern zu bauen. Monumente, Thermen, Tempel und Foren wachsen hier nicht aus Notwendigkeit, sondern aus purem Geltungsdrang. Anno 117 lebt diese historische Phase mit jeder Pore. Wo frühere Teile industrielle Produktionsmonstren oder koloniale Handelsimperien feierten, geht es hier um Pracht, um Repräsentation, um das Gefühl, nicht einfach nur Städte, sondern Geschichte zu erschaffen.

Optisch zieht das Spiel dabei alle Register. Noch nie sah eine Anno-Welt so lebendig aus. Häuser wirken nicht mehr wie Bauklötze, sondern wie lebendige Wohnräume, Produktionsstätten wie kleine Kunstwerke. Straßen schlängeln sich durch Viertel, Plätze fühlen sich belebt an, selbst Wasserläufe und Küsten sind mehr als bloße Kulisse. Besonders die neuen diagonalen Wege sorgen dafür, dass sich Städte deutlich anders und organischer anfühlen (was gab es im Vorfeld für Diskussionen schon dazu). Das klassische Raster existiert weiterhin, tritt aber in den Hintergrund zugunsten eines Stadtbildes, das zum ersten Mal nicht nur effizient, sondern auch natürlich wirkt. Anno 117 ist ein Spiel, das man nicht nur spielt, sondern betrachtet. Eine absolute visuelle Wucht, die sowohl Wuselfaktor, als auch hübsche Struktur offenbart.

Spielerisch bleibt Anno seiner Grundstruktur treu: Ressourcen sammeln, Produktionsketten verzahnen, Häuser aufstufen, Einkommen steigern und dann alles erweitern, optimieren und vermehren. Alles greift weiterhin wie ein präzise geschmiedetes Zahnrad in das nächste. Doch anders als frühere Teile beschränkt sich Anno 117 nicht darauf, dieses Erfolgsrezept leicht zu variieren. Es stellt gleich mehrere Grundpfeiler der Serie infrage – und ersetzt sie durch neue, mutige Ideen. Die wohl wichtigste Neuerung ist der Abschied von strenger Linearität. Statt euch wie bisher auf einen festen Aufbaupfad durch verschiedene Regionen zu schicken, lässt Anno 117 euch von Beginn an wählen: Entweder ihr beginnt im römischen Kernland Latium oder in Albion, der keltisch geprägten Provinz im Norden. Beide Regionen funktionieren erstaunlich eigenständig, beide bieten eigene Wirtschaftsstrukturen, Herausforderungen und Atmosphären. Wer will, kann sich auf eine Welt konzentrieren, statt gezwungen zu sein, zwei Systeme permanent miteinander zu verheiraten. Das fühlt sich befreiend an – und verleiht jeder Partie einen anderen Charakter.

Noch deutlicher zeigt sich dieser neue Freiheitsdrang beim berühmten Herzstück der Reihe: Den Bedürfnissen. Anno 117 verabschiedet sich vom Prinzip „eine Ware pro Kategorie“ und eröffnet Alternativen. Für viele Bedürfnisse gibt es mehrere Lösungen – und eine davon reicht bereits, um den Fortschritt anzustoßen. Das mag banal klingen, ändert aber die gesamte Dynamik des Spiels. Statt immer gleichen Produktionsketten entstehen unterschiedliche Imperien. Keine Partie gleicht der anderen, weil keine Insel identisch versorgt wird. Und dennoch bleibt das altbekannte Anno-Gefühl erhalten: Wer alle Bedürfnisse erfüllt, profitiert weiterhin maximal. Optimierer bekommen also weiterhin Futter – nur eben mit mehr Entscheidungsfreiheit.

Ergänzt wird dieses System durch ein neues Attributssystem, das nahezu jede Handlung in Zahlen übersetzt. Einkommen, Bevölkerung, Wissen, Glaube, Ansehen, Gesundheit, Brandsicherheit und Zufriedenheit stehen permanent im Fokus. Jedes Gebäude, jede Ware und jede Versorgung wirkt sich auf diese Werte aus. Lavendelfelder heben die Stimmung, Schweinezucht verbreitet Krankheiten, Amphoren erhöhen die Brandsicherheit, während Bier und Wein den Wissenszuwachs dämpfen. Das klingt zunächst nach nüchterner Tabellenlogik, entfaltet in der Praxis aber einen enormen Sog. Denn plötzlich geht es nicht mehr nur darum, zu produzieren – sondern darum, Systeme auszubalancieren. Anno 117 wird damit stärker denn je zum Strategiespiel im klassischen Sinn.

Religion und Forschung erweitern diese Mechaniken um zwei weitere Ebenen. Jede Insel kann einer Gottheit geweiht werden, jede Gottheit bringt spezifische Vorteile mit sich – von landwirtschaftlichen Boni über militärische Stärken bis hin zu diplomatischen Erleichterungen. Parallel dazu wächst ein Forschungsbaum, der euren Spielstil festlegt. Wer hier investiert, schaltet nicht nur passive Effekte frei, sondern auch neue Grundfunktionen: Pflasterstraßen, Latrinen, Brunnen – Anno war noch nie so konsequent darin, Fortschritt spürbar zu machen.

Doch wo das Gameplay glänzt, schwächelt die Kampagne. Sie beginnt vielversprechend, mit Figuren, Entscheidungen und einer ordentlichen erzählerischen Klammer. Doch kaum entfaltet sie ihre Ansätze, versiegt der rote Faden. Nach dem Wechsel nach Albion wirkt alles hastig, gehetzt, unvollständig. Die Geschichte endet, bevor sie ihre eigene Konfliktstruktur ausspielen kann. Als Tutorial dient sie nur bedingt, als Narrative enttäuscht sie. Wer direkt ins Endlosspiel einsteigt, verpasst wenig – was für eine Anno-Kampagne eigentlich kein Kompliment ist.

Überraschend stark zeigt sich hingegen das militärische System. Lange Zeit waren Kämpfe in Anno bloße Randnotiz, schmückendes Beiwerk. Anno 117 verleiht ihnen erstmals Gewicht. Seeschlachten bleiben zwar zahlenintensiv, wirken aber taktischer. Richtig aufdrehen darf das Spiel jedoch an Land. Gegnerische Inseln werden nicht mehr einfach plattgewalzt, sondern müssen über verteidigte Villen erobert werden. Legionen marschieren, Katapulte schleudern, Soldaten formieren sich – das alles fühlt sich endlich nach Strategie und nicht mehr nach lästigem Verwaltungsakt an. Wer Krieg will, bekommt ihn. Wer lieber baut, kann ihn weitgehend vermeiden. Diese Wahlfreiheit steht dem Spiel hervorragend.

Im Endgame allerdings verliert Anno 117 ein wenig an Biss. Das große Amphitheater markiert den Höhepunkt des Ausbaus, danach flacht der Antrieb spürbar ab. Kaisermissionen wiederholen sich, langfristige Sammelelemente wie Museen fehlen, Monumente verlieren früh ihren Reiz. Man hat weiterhin viel zu tun – doch der innere Drang, immer weiter zu eskalieren, ist nicht so stark wie noch bei Anno 1800. Und damit steht Anno 117 vor einem vertrauten Problem: dem Vergleich mit seinem eigenen Vorgänger. Anno 1800 war ein perfekt verzahntes Uhrwerk, ein Spiel ohne Leerlauf, ohne irrelevante Mechaniken, ohne spürbare Brüche. Anno 117 hingegen ist ein mutiges, offenes, faszinierendes Werk – aber auch eines, das sich stellenweise - gerade gegen Ende - noch unfertig anfühlt. Nicht im technischen, sondern im konzeptionellen Sinn. Es ist ein Anno, das nicht auf Perfektion zielt, sondern auf Entwicklung. Ein Spiel, das sichtbar mit Erweiterungen im Hinterkopf gebaut wurde.
Doch genau darin liegt auch seine Stärke. Anno 117 ist kein fertiges Monument, sondern eine Baustelle mit gigantischem Fundament. Schon jetzt ist es ein hervorragendes Aufbauspiel. Schon jetzt ist es ein echter Anno-Titel. Aber das Gefühl, dass hier noch mehr kommen wird, dass dieses Spiel wachsen soll, wachsen muss, schwebt permanent mit. Anno 117 ist damit kein Endpunkt – sondern ein Versprechen auf die Zukunft. Und genau deshalb fällt es so schwer, aufzuhören zu spielen.
Fazit
Anno 117: Pax Romana ist der mutigste Umbruch in der Geschichte der Reihe. Mit optionalen Bedürfnissen, dem neuen Attributsystem, Religion, Forschung und frei wählbaren Startregionen öffnet sich das Spiel stärker als je zuvor – und bleibt trotzdem unverkennbar Anno. Das Gefühl, ein Imperium aufzubauen, war selten so intensiv und befriedigend.
Gleichzeitig wird aber deutlich, dass noch nicht alles perfekt verzahnt ist. Die Kampagne bleibt hinter ihren Möglichkeiten zurück, das Endgame verliert etwas zu früh an Zugkraft und an manchen Stellen spürt man, dass dieses Spiel eher auf Wachstum als auf endgültige Perfektion ausgelegt ist.
Schon jetzt ist Anno 117 ein starkes Aufbauspiel mit enormer Sogwirkung. Aber noch fühlt es sich mehr wie ein vielversprechender Anfang an als wie der Höhepunkt der Serie.
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