Inhalt
Während eines Urlaubs in Berlin lernt die australische Fotografin Clare den Einheimischen Andi kennen. Sie fühlen sich direkt voneinander angezogen, man verbringt die Nacht miteinander. Was zunächst wie der Beginn einer zarten Romanze scheint, nimmt eine düstere Wendung, als Clare am nächsten Morgen feststellt, dass Andi zur Arbeit gegangen ist und sie allein in seiner Wohnung eingesperrt hat.
Kritik
Als Stockholm-Syndrom wird ein psychologisches Phänomen bezeichnet, bei dem das Opfer einer Geiselnahme die Beziehung zu seinem Geiselnehmer emotional als positiv erlebt. Diese verzerrte Sichtweise kann dazu führen, dass die Geisel sich zu dem Täter hingezogen fühlt oder gar mit ihm kooperiert. Der Begriff ist auf ein Ereignis zurückzuführen, das sich im Jahre 1973 in der Hauptstadt Schwedens ereignet hat. Die Geiseln eines Banküberfalls entwickelten während ihrer fünftägigen Gefangenschaft eine größere Angst vor der Polizei als vor den Geiselnehmern. Die Sympathien für die Täter hielten auch nach ihrer Freilassung an. Die australische Regisseurin Cate Shortland nahm sich für ihren neuen Film eine Buchvorlage ihrer Landsfrau Melanie Joosten vor, in der das psychologische Phänomen auf die Stadt Berlin übertragen wurde. So erzählt die filmische Umsetzung Berlin Syndrom von der doppelten Wahrnehmungsverzerrung einer jungen australischen Fotografin. Clare Havel fühlt sich zu ihrem Entführer hingezogen, obwohl er sie ihrer Freiheit beraubt. Und sie verehrt die Großstadt Berlin, wenngleich sie zu ihrem Gefängnis wird.
Schon mit den ersten Bildern zeigt sich der Film in höchstem Maße en vogue. Eine junge Frau verlässt ihre Heimat, um im Ausland Lebenserfahrung zu sammeln. Mit dem Trekkingrucksack auf dem Rücken und der Kamera in der Hand taucht sie in die pulsierende Atmosphäre der Metropole Berlin ein. Sonnenuntergänge auf Dachterrassen, Autofahrten im nächtlichen Neonlicht der Stadt und das historische Flair eines ereignisträchtigen Ortes. Wenn der Staub im morgendlichen Sonnenstrahl tanzt und in Zeitlupensequenzen die Stille des Moments eingefangen wird, fühlt man sich vollends vom modernen Zeitgeist überschwemmt. Es ist fast undenkbar, dass die Macher sich nicht von Sebastian Schippers Victoria inspirieren ließen, erinnert doch nicht nur die Prämisse der Handlung, sondern auch das englisch-deutsche Sprachgemisch stark an die nächtliche Berlinodyssee der jungen Spanierin. Und auch die Atmosphäre weist Parallelen auf, da sich Berlin Syndrom ebenfalls als Genrehybrid entpuppt, der die Thrillerelemente leicht vernachlässigt und sich als Charakterdrama vor allem der ambivalenten Beziehung zwischen Täter und Opfer widmet.
Die Faszination des Films geht vorwiegend von dem Zusammenspiel zwischen Teresa Palmer und Max Riemelt aus. Sie verkörpert die zaghafte und zartgliedrige Touristin, die sich offen für neue Erfahrungen zeigt und ihren Mitmenschen vertraut. Er gibt sich als aufrichtig und brav wirkender Englischlehrer, der seine Probleme erfolgreich vor den anderen verbirgt und sich dadurch als umso unberechenbarer entpuppt. Zwischen den beiden entsteht eine seltsame wechselseitige Abhängigkeit. Ein emotionales Gemenge aus Zuneigung, Angst und Obsession prasselt auf den Zuschauer nieder. Durch das langsame Erzähltempo und dramaturgische Pausen in der Handlung gewinnt der Film an Realitätsnähe. Das ist bestimmt nicht jedermanns Sache, tut aber dem Nervenkitzel keinen Abbruch. Berlin Syndrom verzichtet damit auf effekthaschende Umwege und Handlungskniffe und verlässt sich ganz auf das unwägbare gegenseitige Abtasten seiner beiden Hauptfiguren. Das hartnäckige Bedürfnis, die Seelenwelt der Gefangenen zu verstehen, zieht uns unweigerlich in den subtilen Sog des Films.
Fazit
„Berlin Syndrom“ erweist sich als aufwühlendes Charakterdrama mit dezent eingesetzten Elementen eines Psycho-Thrillers. Auch wenn das Drehbuch mit leicht unausgereiften Dialogen aufwartet, überzeugen die elegante Bildsprache und das Zusammenspiel von Teresa Palmer und Max Riemelt allemal. Hier geben sich Hass und Begehren leidenschaftlich die Hand. Ein subtiler Schocker von Film, der stets ein behutsames Auge auf seine Protagonistin hat.
Autor: Jonas Göken