Warum das deutsche Kino in vielerlei Hinsicht nicht mit der vergleichbaren, europäischen Konkurrenz mithalten konnte ist oftmals damit zu begründen, dass es selten bereit war sich aus einer bequemen Komfortzone zu bewegen. Gab es mal Lichtblicke, erhielten es kaum die Möglichkeit sich zu entfalten. Der Neue deutsche Film der späten 60er und 70er blieb somit eine kurzzeitig geöffnetes, ungenutztes Zeitfenster, in dem junge, mutige und kreative Filmemacher mit teils kontroversen und völlig von der Norm des biederen Nachkriegs-Kaffeekränzchen-Kinos abweichenden Projekten mal ihr Nischendasein bekamen. Viele davon verschwanden aber schnell danach wieder, da auf lange Sicht für ihre Art kein Platz war. Bis auf Werner Herzog (Fitzcarraldo) alles nur noch längts verklungene Echos. Auch Roland Klick, der für seine surreale Western-Meditation Deadlock (1970) sogar international gefeiert wurde, jedoch nie den Sprung nach oben schaffte und seine Karriere viel zu früh beendete. Bübchen war 1968 sein kommerziell wenig erfolgreiches, aber immerhin in der Presse heftig diskutiertes Kinodebüt, welches 1969 unter dem sonderbaren Alternativtitel Der kleine Vampir nochmal eine Wiederverwertung erlebte.
Die Stimmung ist gelöst im Elternhaus des 10jährigen Achims (Sascha Urchs), denn seine Eltern wollen gemeinsam mit dem befreundeten Nachbarn auf einer Betriebsfeier ordentlich einen heben. Zu diesem Zwecke wird deren Tochter Monika (Renate Roland, Blutiger Freitag) als Babysitter für Achim und seine knapp einjährige Schwester Katrin eingesetzt. Der unbedarft-lebensfrohe Teenager hat wenig Lust auf den introvertierten, melancholischen Jungen und begibt sich nur zu gerne mit ihrem Stecher Otto (Jürgen Jung, Mädchen, Mädchen) auf zu einem Schäferstündchen. Was folgt ist eine katastrophale, von niemanden hervorgesehene Ereigniskette, an deren Ende die schonungslose Wahrheit aus der Schale der kleinbürgerlichen Wohlstands-Idylle herausbricht. Wo alles auf den ersten Blick anständig, normal und unauffällig aussieht, jedoch eigentlich eine brutale, emotionale Vernachlässigung stattfindet, die sich nun urplötzlich mit aller Gewalt entlädt. Und im Nachhinein erst den niederträchtigen Charakter dieser lieblosen, egozentrischen Scheinwelt in seiner Perversität gnadenlos an den Pranger stellt.
Die beiden Familien scheinen wie typische Vertreter der im Wirtschaftswunderland erwachsen gewordenen Generation: Nicht reich, aber gehoben Arbeiterklasse. Ihnen mangelt es an nichts Essenziellem. Solider, etwas besserer Durchschnitt halt. Sorgenfrei und unbeschwert. Die Männer verdienen das Geld und gehen abends in die Kneipe, die Frauen sind noch Hausfrauen und kümmern sich um den Nachwuchs, aber sind schon nicht mehr die Kittelschürzen-Heimchen, die sich nur 24/7 als Erziehungs-Putz-Koch-Roboter betrachten. Eine Grauzone, in der „Fälle“ wie der offenkundig schwer emotional, pädagogisch und empathisch verwahrloste Achim einfach unbemerkt durchschlupfen. Der Bub ist ruhig, macht meistens was ihm befohlen wird und lässt sich wunderbar ignorieren, wenn man gerade Besseres zu tun hat. Das da etwas gewaltig nicht stimmt sollte offensichtlich sein, aber so gesehen entspricht er der „Idealvorstellung“ seiner Eltern und auch dieser Generation. In der Vati einen Zehnjährigen ernsthaft fragen muss, ob er schon mal einen Clown gesehen hat. Welcher Vater wüsste das bei seinem Sohn nicht? Eben solche Eltern. Die Kinder haben Spielzeug, ein aufgeräumtes Zuhause und immer genug Essen auf dem Tisch. Solange sie keinen Unfug anstellen, ist doch alles super.
Schon früh stellt Roland Klick diese biedere, eiskalte Selbstverständlichkeit als verstörenden Fremdkörper in den Raum. Bübchen ist von der ersten Sekunde unglaublich unangenehm, obwohl hier doch nur etwas ganz Alltägliches und zunächst sogar sehr heiter Angehauchtes dargeboten wird. Es ist dieser Kontrast aus harmloser Oberflächlichkeit und einem lange schwelenden, inzwischen wirklich brodelnden, aber nie auch nur ansatzweise erkannten Konflikt, der auf einmal mit voller Wucht explodiert. Mit diesem Extrem reißt der Regisseur seiner zynisch entlarvten Biedermeier-Schicht eine potthässliche Maske herunter, die sie wohl tatsächlich völlig unbewusst trägt. Der Plot ist verblüffend grob, wenig erklärend, dennoch erschreckend glaubhaft, da diese lieblose Scheinwelt mit jeder Minute mehr und mehr an Authentizität gewinnt. Auch wenn die Kinder augenscheinlich im Fokus stehen, an keinem von ihnen ist hier eine der Figuren ernsthaft interessiert. Es geht nur um die Wahrung des Status quo. Darum, sich etwaige Unannehmlichkeiten zu ersparen. Der Preis dafür ist verdammt hoch, wird trotzdem erschütternd deutlich in kauf genommen. Alles beim Alten – nur ein Kind weniger. Besser mit der Lüge zu leben, als an der (ganzen) Wahrheit zu zerbrechen. Zu Tisch, das Essen wird kalt.