7.1

MB-Kritik

Certain Women 2016

Drama

7.1

Laura Dern
James Le Gros
Jared Harris
Ashlie Atkinson
Guy Boyd
John Getz
Michelle Williams
Sara Rodier
René Auberjonois
Lily Gladstone
Kristen Stewart
Marceline Hugot

Inhalt

Lau­ra ist Anwäl­tin, die einen ver­zwei­fel­ten Kli­en­ten davon über­zeu­gen will, dass eine Arbeits­rechts­kla­ge erfolg­los sein wird. Gina und ihr Mann Ryan begin­nen mit­ten im Wald mit dem Bau eines eige­nen Hau­ses und möch­ten dafür dem alten Nach­barn die Natur­stei­ne abluch­sen, und haben eine schwer puber­tie­ren­de Toch­ter im Gepäck. Die jun­ge Pfer­de­pfle­ge­rin Jamie ver­liebt sich in Beth, eine Jura­stun­den­tin, die Abend­schul­un­ter­richt auf dem Land gibt. Der Film, basie­rend auf Kurz­ge­schich­ten der Schrift­stel­le­rin Mai­le Meloy, ver­wei­gert sich der Zuschrei­bung von übli­chen Frauen-Filmfigur-Klischees (von der"starken Frau" bis zum "Opfer"). Er gewinnt dadurch rea­lis­ti­sche, nach­voll­zieh­ba­re Cha­rak­te­re, die sich mit all­täg­li­chen Pro­ble­men her­um­schla­gen - Aner­ken­nung als Kom­pe­tenz, Ver­ständ­nis ohne Gön­ner­haf­tig­keit, Ein­sam­keit und (herz­ze­rei­ßen­de) Sehn­sucht. Mit aller Ruhe und beson­de­rer Auf­merk­sam­keit fürs Sub­ti­le und für Zwi­schen­tö­ne ermög­licht Cer­tain Women ein wun­der­bar ange­neh­mes, gelas­se­nes Schau­en, das es natür­li­ch in sich hat: gera­de das schein­bar Neben­säch­li­che, die all­täg­li­chen Klei­nig­kei­ten prä­gen hier Bezie­hun­gen und Ver­hält­nis­se, nicht gro­ße Ereig­nis­se.

Kritik

Bescheidenheit ist eine Tugend, die im kontemporären Kino schon lange kein Usus mehr zu sein scheint. Doch inmitten aller Zwänge der Selbstdarstellung, des Geltungsdrangs, des Größenwahns und der Nabelbeschauung, gibt es immer wieder Filme, die verstanden haben, dass gerade in der (oberflächlichen) Schlichtheit eine horizonterweiternde Bedeutungsvielfalt liegt, die das Publikum jenseits aller nominierten Sehgewohnheiten entfalten muss – gesetzt den Fall, dieses ist aufgeschlossen genug, die ruhigen Töne zu lesen, zu entschlüsseln und zu deuten. Kelly Reichardt (Night Moves) ist eine der Künstlerinnen, deren Werke sich noch als symphonische Elegien definieren und den Zuschauer dahingehend anleiten, die Stille zu erkunden. Mit ihrem neusten Output, Certain Women, wird nicht nur dieser Umstand weitergehend unterstrichen; Reichardt baut auch ihre Reputation als hochgradig belangvolle Autorenfilmerin weiter aus.

Begrüßt wird man von Kelly Reichardt mit einer uramerikanischen Landschaftsimpression des verschneiten Montanas, durch welches sich eine schnaubende Dampflok ihren lärmenden Weg bahnt. Eine gefühlte Ewigkeit scheint es in Anspruch zu nehmen, bis sich das grölende Stahlross aus der Tiefe des Bildes in die Vordergrund vorgekämpft hat. Diese Eröffnung ist für den weiteren Verlauf von Certain Women in vielerlei Hinsicht programmatisch zu verstehen. Nicht nur, wird hier auf eine Langsamkeit verweisen, die keinesfalls einen Anflug an Langatmigkeit impliziert, sondern vielmehr die Meditation des Moments forciert. Auch möchte der Einblick in ein provinzielles Amerika im ersten Augenblick keine Wehmut heraufbeschwören, sondern postwendend aufzeigen, dass derlei spezifizierte Gefühlsregungen an dieser Stelle unangebracht sind. Was sich im Kern der meisterhaften 16mm-Kompositionen aber wirklich verbirgt, bliebt der Auffassung des Zuschauers überlassen.

Certain Women verweigert es, dem Zuschauer ausbuchstabierte Offensichtlichkeiten zu unterbreiten. Kelly Reichardt zollt Ergebnissen, Zeugnissen, Lösungen kein Interesse – und noch weniger möchte sie ihren Film unter dem despektierlichen Stigma 'Frauenfilm' residieren lassen. Das Schöne an Certain Women ist, dass er in seinen Motiven von universaler Beschaffenheit gezeichnet ist und simultan dazu die Könnerschaft aufweist, von den in unserem Bewusstsein festgewachsenen Geschlechterstrukturen unserer Zeit zu sprechen. Die weiblichen, allesamt wunderbar besetzten und plastisch geschriebenen Hauptcharaktere beanspruchen keine parolenhafte Perspektive für sich. Sie sind alle vielmehr Bestandteil eines kontemplativen Diskurses über Ängste, Bestrebungen, Ernüchterung und Begehren. Kelly Reichardts subkutane Genialität liegt darin begraben, erzählerisch wie stilistisch tiefzustapeln und doch einen nachdrücklich-hintersinnigen Bogen zu spannen, der im Innerem das Leben in all seinem wechselhaften Facettenreichtum gebärt.

Fazit

Ohne Zweifel zählt Kelly Reichardt zu den wichtigsten Filmemacherinnen (und damit allgemein Künstlern) unserer Zeit. Ihr neustes Werk, "Certain Women", ist ein erneuter Beweis für die kontemplative Meisterschaft ihrer Person. Anstatt sich verkürzten Offensichtlichkeiten und Lösungen hinzugeben, erzählt sie über die immense Kraft der Bilder von den Bedürfnissen und Ängsten ihrer Hauptdarstellerinnen und überlässt dabei gleichwohl viel der individuellen Auffassung des Publikums. In der Stille liegt hier die Stärke begraben.

Autor: Pascal Reis
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