Wie stellt man den Filmemacher Spike Lee jemandem am besten vor, der von ihm noch nichts gehört und noch weniger gesehen hat? Fängt man da bei Filmen an, die er zwar inszeniert hat, aber die nicht wirklich, wie viele seiner anderen Filme, seinen Namen in jeder Faser eines jeden Bildes stehen haben? Dann wäre „Inside Man“ mit Clive Owen, Jodie Foster und Denzel Washington aus dem Jahr 2006 wahrscheinlich ein guter Start. Ein einfacher aber durchaus spannend inszenierter Krimi. Nicht weltbewegend, aber nett für Zwischendurch. Oder aber fängt man bei seinen großen, wütenden Filmen an, wie zum Beispiel seiner dreistündigen Biographie „Malcolm X“, einmal mehr mit Denzel Washington.
Vielleicht ist die richtige Antwort aber auch gar nicht in seiner Filmographie, sondern in seinen Aussagen zu finden. Quentin Tarantinos „Django Unchained“ hat er öffentlich noch vor dem Erscheinen des Films diffamiert und boykottiert, weil - sinngemäß wiedergegeben - ein Weißer schließlich keine Ahnung davon haben kann, wie man das Thema der Sklaverei richtig behandelt. Willkommen in der Welt von Spike Lee. Der Herr ist absolut gegen Rassismus (richtig so!) und macht das deutlich, in dem er gängigen Rassismus auf die weiße Bevölkerung anwendet (?). Er macht also das Richtige auf eine falsche Art und Weise. Wenn man nun also weiß, über was für eine laute und gewichtige Stimme Spike Lee verfügt (vor allem für die Afroamerikaner), darf man doch gespannt auf seinen neuen Film sein, der den Titel „Chi-Raq“ trägt und sich mit den realen Gang- und Rassen-Unruhen im zeitgenössischen Amerika satirisch auseinandersetzt. Vorhang auf.
Der Filmtitel „Chi-Raq“ fügt sich aus den Namen der Stadt Chicago, in dessen Südviertel Englewood die Kriminalität seit Jahren bekanntermaßen ungemein hoch ist, und dem Kriegsgebiet Irak zusammen; ein Umstand, durch den beinahe die finanzielle Unterstützung durch die Stadt Chicago flöten gegangen wäre. Lee hat aber an seinem Titel festgehalten. Das spricht für ihn. Generell scheint ziemlich viel für diesen Film zu sprechen, wenn man sich einmal die Ausgangsposition bewusst vor Augen hält. Spike Lees neuer Film basiert auf einer altgriechischen Komödie namens „Lysistrata“ oder auch „Die Heeresauflöserin“ des Dichters Aristophanes. In der geht es um eine Gruppe von Frauen, die ihren Männern jegliche sexuelle Befriedigung verweigern, solange sie keinen Frieden schließen können. Lee kombiniert dieses komische Grundgerüst und übernimmt dabei den Stil insofern, dass die Dialoge zum überwiegenden Großteil in Versform geschrieben sind.
Über die Zustände in Chicago, über die daraus resultierenden Gefühle und die Hoffnungs- und Verständnislosigkeit der Bevölkerung, wird direkt im musikalischen Intros des Films berichtet. Lee eröffnet seinen Film mit einem Rap, der Songtext erscheint in roter Schrift auf schwarzem Hintergrund. Der rote Faden des Liedes ist eine müde Bitte an den Herr Allmächtigen. „Himmel, hilf uns.“ Was ist der amerikanische Traum, der früher in Chicago florierte, was bedeutet er für Menschen, die in einer Stadt wohnen, in der Kerzen und Blumen für Todesopfer von Schießereien und Gang-Brutalitäten zynisch gesehen zu den Wahrzeichen gehören? Der Protagonist des Films, seines Zeichens Rapper des genannten Intro-Liedes, der unter dem Alias „Chi-Raq“ auftritt und eine der beiden rivalisierenden Gangs des Films angehört, er fordert, dass nun genug geredet wurde; Taten müssen folgen. Und Taten werden folgen, aber nicht von ihm initiiert, sondern von seiner Lebensgefährtin Lysistrata. Die mobilisiert nämlich die Frauen beider Gangs und ganz Amerikas, um ihren Männern sexuelle Befriedigung zu verweigern, bis die Gang-Probleme sich gelöst haben und Frieden eingekehrt ist.
Erst nehmen die Männer das natürlich nicht ernst, dann aber begreifen sie irgendwann den Ernst der Lage. „The situation is out of control because I’m in front of an empty stripper pole!“ beschwert sich Morris (Dave Chappelle!), dessen Strip-Schuppen auf einmal keine Reize mehr zu bieten hat. Und auch wenn Cyclops (Wesley Snipes, „Blade“) ihm als Ersatz einen seiner Jungs anbieten möchte, irgendwie haben doch alle begriffen, dass ihre Frauen es ernst meinen. Es sind Momente wie diese, in denen Spike Lees Gespür für Humor auf charmanteste Art und Weise an die Oberfläche herankommt und immer wieder breite Grinsen, teils laute Lacher erzeugt. Chappelle und Snipes sind da nur zwei von unzähligen passend besetzten Schauspielern, Samuel L. Jackson („The Hateful Eight“) ist als Erzähler eine weitere Reminiszenz an den ursprünglichen Theater-Stoff natürlich einmal mehr die Krönung.
Tatsächlich lässt sich festhalten, dass die satirischen Momente von „Chi-Raq“ allesamt gelungen sind. Der Humor trifft immer wieder ins Schwarze (das wird man ja wohl noch sagen dürfen) und kommt vor allem durch die erstklassigen Dialog-Verse zustande, die teils schlau, teils bescheuert, teils schmerzhaft wahr sind, aber immer geschmeidig über die Lippen der Schauspieler gehen. Die Versform ist, und das überrascht, keinesfalls ein hemmender Faktor in der Rechnung, sondern ein unterstützender. Und so zündet Lee hier im großen Ganzen ein kleines Feuerwerk aus Gewalt, Sex, Drogen, satirischem Witz über Politiker und Vorurteile, das jedoch nicht über die vollen zwei Stunden so konsequent ist, wie man es sich erhoffen mag. Die wahre Auswirkung der Verfehlungen zeichnen sich aber erst nach etwas einer Stunde ab und enttäuschen so weit, dass das Ende etwas Neues schafft, was man bei einem solchen Film wohl als letztes erwartet: Es lässt kalt.
Die überaus gelungenen satirischen Stellen des Filmes sind nämlich nur das Gerüst, das sich um den ernsten und zutiefst tragischen Kern des Films legt. Bereits zu Beginn vergleicht Spike Lee mit Texttafeln die Zustände in Chicago mit denen im Irak oder in Afghanistan. In den letzten zehn Jahren sind in der Großstadt mehr Amerikaner erschossen worden als in den Kriegsgebieten. Deshalb „Chi-Raq“, eine Stadt als Kriegsgebiet mitten im mächtigsten und freiesten und bestesten Land der Welt. Der Witz soll das nicht verschleiern; bei der Thematik des Films geht es um was. Nicht umsonst hangelt sich die Geschichte des Films an realen Geschehnissen entlang, nennt Sandy Hook, Eric Garner und all die unzähligen anderen verstorbenen Menschen beim Namen und lässt Lysistrata in einer Szene demonstrativ die Konföderierten-Flagge von einer Wand reißen. Das sind sicherlich - vorsichtig ausgedrückt - Momente wie Balsam für die geschundene Seele. Unvorsichtig ausgedrückt sind das „Fuck, yeah!“-Momente.
Spike Lee weiß also sehr wohl, was sein Film bewirken könnte, was von seinem Film erwartet wird und er weiß um die Brisanz, die er absichtlich ansteuert. Deshalb ist es so gnadenlos enttäuschend zu sehen, wie er mit den Erwartungen, der Thematik und seiner Verantwortung umgeht. Lee lässt seinen Film immer wieder zu einem politischen Pamphlet verkommen, er lässt seine Charaktere wie den Pastoren (John Cusack, „Love & Mercy“) in die Welt und die Ohren des Zuschauers schreien und ignoriert da alle Möglichkeiten der Umschreibung, sondern lässt einfach nur Parolen schmettern. Es wirkt so, als wolle Lee seine Zuschauer demonstrativ belehren. Das größte Problem aber ist, dass irgendwann Gewissheit wird, was sich in den Kirchen-Szenen angedeutet hat. Lee hat selbst keine Ideen, wie man die ernsten Probleme, die er hier aufzeigt und teilweise sogar um Schuldzuweisungen nicht bescheiden ist, lösen, geschweige denn angehen könnte. Stattdessen begnügt er sich letzten Endes mit einer „Habt euch doch einfach lieb“-Moral, die schlicht viel zu einfach ist, wenn man vorher zwei Stunden lang so große Töne spuckt.