Der Pacific Crest Trail ist für die Amerikaner das, was für uns der Jakobsweg darstellt. Und das bedeutet nicht nur eine lange, nervenzerrende und strapazierende sowie einsame Reise (wenn man sie denn allein angeht), sondern für viele Menschen auch eine Möglichkeit über persönliche Probleme und eigene Limits hinauszuwachsen: Die Wanderung als eine Suche nach sich selbst, ein Weg sich selbst zu verstehen und die Möglichkeit das Dasein auf eine andere Art als unsere kontrollierte und städtische Lebensweise anzugehen. Die Wanderer-Biografie “Der große Trip - Wild” behandelt genau diese Selbstfindung bzw. diese Rückkehr zu sich selbst und den Kampf gegen innere Dämonen, welcher durch Isolation und die Überwindung der eigenen Grenzen gewonnen werden soll. Mitte der Neunziger war es gar eine kleine Sensation, dass in Person von Cheryl Strayed eine Frau diesen Weg beschritt und erfolgreich zu Ende führte. Diese persönliche und dramatische Reise findet nun ihren Weg ins Kino. Und selbst, wenn man “Wild” vorwerfen könnte, dass sich hier in emotional ziemlich bekannte und wenig überraschende Seelentiefen gestürzt wird, ist es doch vor allem die tolle Inszenierung und das großartige Schauspiel, aufgrund derer “Wild” dieses Jahr zu einer wahren Dramaperle avanciert.
Man sollte von einem Film, vor allem einem Drama, nicht immer neue Erkenntnisse über die persönlichen Gefühle und die Probleme des Lebens und des Todes erwarten. Viel vordergründiger ist es, dass ein Drama diese Aspekte, trotz ihres schwierigen Klischeeanteils und ihres häufigen Gebrauchs (und das ist nicht unbedingt negativ gemeint), emotional gelungen auf den Zuschauer überträgt, sodass dieser mit den Figuren mitfühlen, mitfiebern und letztlich mit ihnen leiden kann. “Der große Trip - Wild” ist genau so ein eindringliches und bewegendes Drama, dass das Thema des Verlustes auf mehreren Ebenen packend, wenn auch relativ bekannt, behandelt. Cheryls Versuch ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und emotional den Verlust der eigenen emotionalen Lebensbasis zu bewältigen, ist keine Neuerfindung dramatischer Gefilde, aber eben genau so überzeugend dargestellt, dass sie den Zuschauer nicht nur zu Mitleid bewegen, sondern ihn wahrhaftig in Cheryls Seelenleben hineinkatapultieren kann.
Dies liegt gleich an zwei Ursachen. Zum Einen sei da Reese Witherspoon (“Walk the Line”) genannt, die vermutlich die beste Performance ihres Lebens abliefert. Nicht nur ist die Darstellung von Cheryl Strayed mit viel Körpereinsatz, sowie emotionalen Umschwüngen und Tiefen verbunden, sondern auch mit dem Mut diese expressive Talfahrt komplett alleine zu tragen. Ohne Witherspoons erstaunlich eindringliche und überzeugende Performance wäre “Wild” zwar immer noch ein faszinierender Film, aber vermutlich nicht halb so persönlich. Und da ist es natürlich ein wahrlich positiver Nebeneffekt, wenn auch die Nebenfiguren absolut überzeugen können. Laura Dern(“Jurassic Park”) als Cheryls Mutter Bobbi zum Beispiel oder Thomas Sadoski(“John Wick”) als sorgender Exmann sind neben der Hauptdarstellerin zwar unstrittig nur Nebencharaktere und könnten gar als Zweckmittel verschrien werden, die dem Charakter von Cheryl ausschließlich als emotionale Symbole dienen, etablieren sich im Fortlauf aber zu absolut glaubwürdigen Charakteren, die der Ausreißerin ihren nötigen, realistischen Hintergrund verleihen.
Zum Anderen sei Jean-Marc Vallées (“Dallas Buyers Club”) einfallsreiche und aufgeladene Inszenierung genannt, die sehr gelungen mit den audiovisuellen Aspekten von Witherspoons Innenleben spielt, welches hier wiederholt wie Blitzlichter vor Cheryls innerem Auge auflodert. Manch einem mag das abschrecken oder anstrengend erscheinen, aber eben aufgrund dieser temporeichen und plötzlichen Schnitte, den kurz eingestreuten symbolischen Bildern, als auch der wunderschönen und immersiven Musik, inszeniert der Film sich nicht nur packend und eindringlich, sondern auch angenehm kreativ. In dem Zuge gesellen sich auch die tollen Landschaftsaufnahmen zur gelungenen Bildsprache hinzu, die den Film wahrlich in ein kleines Kunstwerk verwandelt. Auch narrativ ist das Ganze rund: Vergangenes und Gegenwärtiges wird immer mehr gelungen gemischt und wirkt, trotz der sehr episodenhaften Struktur des Films, immer einer Intention und einem roten Faden folgend. Die Gegenwart wird zudem auf symbolischer Ebene ausgezeichnet durch das Vergangene unterstrichen. Dieser Film wirkt einfach wie aus einem Guss
Nur das plötzliche Ende stößt dann beinah vor den Kopf. Trotz seiner knapp 2 Stunden Laufzeit ist “Wild” einer der Filme, die zu Gunsten eines runderen Endes, gern noch 10 Minuten mehr vertragen hätten. Zwar hört der Film auf einer emotional hohen Note auf, bricht dann aber fast mitten im Geschehen ab. Im Endeffekt ist dies aber nur einer von wenigen, sporadisch erkennbaren Kritikpunkten an diesem wundervollen, eindringlichen, starken und teils gar hervorragenden Drama, das den Zuschauer endlich mal wieder mehr als bloßes Mitleid, sondern echtes Mitgefühl entlocken kann.