„Etwas von der Seele heruntersprechen, das regt mich nicht auf, das macht still.“
In einem Interview aus dem Jahre 1977 sagte Rainer Werner Fassbinder (Die bitteren Tränen der Petra von Kant) einmal, dass es ihm beim Filmemachen inzwischen nur noch darauf ankäme, die eigenen Ansichten zu erzählen, abseits jedweder moralischen Absicherung. Manch einer wird sich berechtigterweise nun die Frage stellen, wie Fassbinder seine persönliche Weltsicht aus dem Stoff extrahiert, der nicht von ihm selbst verfasst wurde? Auch hierfür hatte das viel zu früh verstorbene Ausnahmetalent eine passende Antwort: Materie, die nicht von ihm entstanden ist, präsentiert sich ihm dennoch von größtem Interesse, weil er sie nach seinen eigenen Vorstellung beleben kann. Wie dieses Beleben schlussendlich aussehen kann, beweist die Literaturadaption Fontane Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen.
Der weltliterarischen Meilensteins von Theodor Fontane aus dem Jahre 1895 ist nicht nur fester Bestandteil des Schulinventars und darf zur alljährlichen Abiturprüfung ausgiebig analysiert wie interpretiert werden, der Roman selbst ist Bestandteil eines gesunden Allgemeinwissens und hat sich als Referenzwerk gesellschaftspolitischer Kritik in das kollektive Bewusstsein Kunstinteressierter eingebrannt. Hier lassen sich also schon einmal gewisse Schnittstellen erkennen, die erklären, warum sich Rainer Werner Fassbinder für Effi Briest entschieden hat. Leitmotiv seines umfangreichen Œuvre nämlich ist es ebenfalls, das vorherrschende System, wie es schon der Untertitel des Films kundtut, zu hinterfragen und wenn nötig, dagegen zu rebellieren. Theodor Fontane richtet seinen Unmut einst gegen das Kaiserreich und die gesellschaftlichen Restriktionen Preußens. Fassbinder verstand darin eine Veräußerung von Beklemmung wie Verdrossenheit, die sich in universaler wie zeitloser Fasson offenbarte.
Das Geniale und gleichermaßen Herausfordernde an Fontane Effi Briest, ist, dass sich Fassbinder durch eine außerordentliche Werktreue auszeichnet und der Vorlage - trotz logischer Limitierungen innerhalb des Handlungsrahmens - mit einer inszenatorischen Konsequenz wie stilistischen Genauigkeit begegnet, dass sich die Sichtung des Films für den Zuschauer ein ums andere Mal ob all der Nüchternheit zur wahren Geduldsprobe entwickelt. Fassbinder, der sich im Klaren darüber war, dass Film und Literatur oftmals miteinander divergierende Medien darstellen, versucht sich daran, den reinen Leseprozess ins Filmische zu übersetzen, nutzt Weißblenden wie das Umschlagen von Seiten, bindet Textpassagen und sich selbst als Off-Erzähler ein. Jeder Satz ist hier eine Zeile, jedes Schweigen ein Zeilenumbruch und wir lesen einen Film, schauen einen Roman, der zum Nach- und Überdenken animiert, weil Fassbinder die Textvorlage nicht durchleuchten möchte.
Bedrückend und ergreifend wird Fontane Effi Briest, wenn man sich auf die Sogwirkung des Filmes einlassen kann. Wenn man in der Präzision von Fassbinders Handwerk nichts Akademisches, sondern letztlich doch etwas Bescheidenes erkennt. Denn dann wird deutlich, dass sich sein Werk, welches durch wunderbar anzusehende Schwarz-Weiße-Kompositionen bestimmt wird, die selbst ein Ingmar Bergman (Persona) nicht kunstfertiger hätte evozieren können, mit viel Mitgefühl um seine erst lebensgewandte und wissbegierige Protagonistin (Hanna Schygulla, Auf der anderen Seite) kümmert, um sie später für ihre fehlgeleitete Auffassung von Protest zu bedauern. Irgendwann nämlich erteilt Effi Briest ihrem Umfeld die Erlaubnis, sie leiden zu lassen. Sie erteilt den Schleiern und den Gittern, die die Charaktere ohnehin immer wieder umranken und versperren, die Entscheidungsgewalt über ihr Leben. Fontane Effi Briest ist, wenn man so möchte und es metaphorisch auf das seelische Befinden übersetzt, ein Gefängnisfilm. Ein äußerst tragischer noch dazu.