Während der französische Künstler Chris Marker an seinem legendären Kurzfilm La Jetée - Am Rande des Rollfeldes drehte, produzierte er mit seinem Co-Regisseur Pierre Lhomme (Be Seeing You) die Dokumentation Der schöne Mai. Hierbei gingen Marker und Lhomme im Mai 1963 auf die Straßen von Paris und interviewten zufällig gewählte Leute. Aufhänger war das Ende des Algerienkrieges. Chris Marker, als Zugehöriger des Rive Gauche, einer Teilbewegung während der Nouvelle Vague, die finanziell weniger erfolgreich und weitaus dokumentarischer arbeitete als die Kollegen der Cahiers du Cinema, war mit liberalen Ansichten streng gegen den Algerienkrieg. So nutzte er die Gunst der Stunde, um ein Porträt der Stadt Paris zu filmen und gleichzeitig den Menschen die immer gleiche Frage zu stellen: Sind Sie glücklich? Was würde Sie glücklich machen? Wie war Ihr Monat Mai? Ist das Leben besser oder schlechter als zuvor?
Die schönste Stadt der Welt (als Hamburger muss der Autor hier ein Fragezeichen setzen) sollte morgens erkundet werden, beschließen Marker und Lhomme. Wenn die Stadt noch unbefleckt und unschuldig ist, wenn sie langsam erwacht. Erst auditiv, man hört das Getümmel über viele verschiedene Tonaufnahmen, die parallel abgespielt werden. Dann visuell, wenn die vielen Autos, Züge und Schiffe anfangen, die Brücken, Straßen, Gleise und Flüsse zu verstopfen. Von weit oben filmt Marker hier die Pariser. Sie stehen auf einem Platz in der Morgensonne, ihre Körper werfen lange und harte Schatten. Menschen, die so winzig und machtlos aussehen, unschuldig eben und anonym noch dazu. Man könnte den einen nicht vom anderen unterscheiden. Der Eiffelturm, gleichzeitig Wahrzeichen und „Schandfleck“ dieser Stadt, wirft einen langen spitzen Schatten über die umliegenden Straßen.
Es hat etwas Phallusartiges, wie der Schatten in die Stadt zeigt: Ein Vorgriff auf ein Thema, das Marker immer wieder berührt. Das Bild der Männlichkeit. Sein erster Interviewpartner, ein kämpfender Modeverkäufer erzählt, dass er gern Western im Kino schaut, weil die Männer dort einfach mittels Gewalt alles kurz erledigen. Im weiteren Verlauf des Interviews erwähnt er - auch wenn er unpolitisch sei - dass Charles De Gaulle gute Sachen mache. Marker interveniert hier, zeigt De Gaulle und macht sich über ihn mittels Zirkusmusik lächerlich. Ein Bild der starren Männlichkeit, dem Marker gehörig die Hammelbeine langzieht. Seltsam: Als ein anderer Mann später davon erzählt, Frauen gehörten nicht in die Politik, weder als Volksvertreterinnen noch als Wählerinnen, macht Marker sich nicht über diese Ansicht lustig. Er unterscheidet hier zwischen Meinungen aus dem Volk und den elitären Machtpolitikern, die für ihn (und viele andere Franzosen) Schuld an den anmaßenden Zuständen der Großstadt sind.
Auf der Suche nach Glückseligkeit findet Marker allerlei Menschen aus allen Schichten. Er interviewt schlichte Arbeiter, schnieke Börsenmakler, Schüler, Einwanderer und Künstler. Allen widmet er ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit und Respekt. Besonders blüht er auf, sobald es in die Kontroverse geht und mehrere Menschen mehrere Meinungen haben. Wenn er neue Welten oder Ansichten kennenlernen kann. Bevölkert von Politikverdrossenen, die teilweise den Wert einer Demokratie schulterzuckend unter die Straßenbahn treten würden, die ihre Freiheit achtlos wegwerfen (müssen), um in dem System des Leistungsdrucks standhalten zu können. Die meisten Menschen arbeiten hier nur, um weiter arbeiten zu können, um sich und ihre Familie über Wasser halten zu können. Chris Marker liebt diese Stadt und ihre Menschen. Und deshalb schafft er es nicht, sie nicht zu kritisieren. Deshalb wird er nie aufhören, für sie zu kämpfen. Ist Chris Marker glücklich? Vielleicht, solange er eine Kamera in der Hand und eine Mission im Herzen trägt. Und wenn es nicht im Mai klappt, dann vielleicht im Juni.