Gottesfürchtige Nationalisten und orthodoxe Aktivisten gingen auf die Barrikaden und drohten damit, Kinosäle in Brand zu stecken, sollten sich die Lichtspielhausbetreiber dazu entschließen, Mathilde – Liebe ändert alles in ihr Programm aufzunehmen. Allen voran war es Natalja Wladimirowna Poklonskaja, Abgeordnete der traditionalistischen Kreml-Partei Duma, die nicht nur Hauptdarsteller Lars Eidiniger (Die Wolken von Sils Maria) mit homophoben Beleidigungen bedachte, sondern sich gallespuckend dafür einsetzte, das von russischen Staatsgelder mitfinanzierte Historien-Drama von Alexei Utschitel (Krai, der Rand) niemals an die Öffentlichkeit geraten zu lassen. Utschitel, dessen Büro in St. Petersburg sich einige Wochen vor dem offiziellen Kinostart einem Molotowcocktail-Angriff ausgesetzt sah, reagierte mit Rat- und Fassungslosigkeit: Er, der sie niemals kritisch gegenüber seinem Heimatland geäußert hat, würde doch niemals einen seiner entscheidenden Geldgeber beschimpfen.
All die Gewalt, die angedrohte und ausgeführte, die verbale und körperliche, enttarnt sich spätestens dann als Akt der verblendeten Sinnlosigkeit, wenn man Zeuge vom zurückhaltenden Wesen wird, welches Mathilde – Liebe ändert alles fortwährend mit sich trägt. Dieser Film, der im Vorfeld dermaßen viel Sand aufgewirbelt hat und Lars Eidinger eine Zeit lang mit Angstgefühlen vor die Haustür treten ließ, ist am Ende des Tages vor allem eine Sache: Handzahm und . Die Geschichte um die Liebschaft zwischen dem letzten Zaren Russlands, Nikolaus II., und der Primaballerina Mathilde Kschessinskaja (Michalina Olschanskaja, Sobibor) findet ihr mehrwertiges Potenzial erst im Gedankenspiel, dem sich Utschitel allerdings kaum widmet. Denn, wie würde die Geschichte Russlands heute aussehen, wenn Nikolaus sich nicht für seine Pflicht, sondern für seine Leidenschaft entschieden und der Vernunftehe mit der Deutschen Alix von Hessen entsagt hätte?
Eine Frage, für die sich Mathilde – Liebe ändert alles nicht interessiert. Ohnehin ist es für den Zuschauer ein äußerst kompliziertes Unterfangen, sinnfällig aufzuklären, was Regisseur Alexei Utschitel nun genau dazu angetrieben hat, diesen erschreckend nichtssagenden Film in Szene zu gießen? War es seine Intention, den Heiligen-Status der Zaren-Familie filmisch zu betonieren, in dem er die Geschichte einer unerfüllten Liebe anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution in die Kinos bringt? Sollte hier der brennende Gewissenskonflikt vom oft gescholtenen Nikolaus nachempfunden werden, der den Thron augenscheinlich nur bestiegen hat, um eine Staatsräson zu vermeiden? Oder versteht sich Mathilde – Liebe ändert alles als produktionstechnische Machtdemonstration, die den Rubel im großen Stil nicht unbemerkt hat rollen lassen sollen. Unter diesem Gesichtspunkt nämlich würde Alexei Utschitels Rechnung halbwegs aufgehen.
Als detailversessener Arrangeur stimmungsvoller Bildwelten nämlich weiß Alexei Utschitel zu überzeugen. Das historische Ambiente, bestehend aus edlen Kostüm, prunkvollem Dekor und einer nahezu verschwenderischen Ausstattungswut weiß den Zuschauer durchaus für sich zu gewinnen: Das üppige Budget hat sich bezahlt gemacht, denn das Leben am royalen Hofe wird innerhalb der formschönen Hochglanzaufnahmen lebendig. Auch die Besetzung kann sich sehen lassen, weiß nicht nur Lars Eidinger, der sich phonetisch mit der russischen Sprache vertraut machte, anschließend aber nachsychronisiert wurde, in der Hauptrolle erneut zu gefallen, gerade Ingeborga Dapkunaite (Red Sparrow) hinterlässt als Maria Fjodorwna bleibenden Eindruck, wenn sie ihre Zarenmutter als eine Art Eishexe mit bedrohlicher Kälte metaphorisch hinter Nikolaus positioniert – ihr Atem im Nacken ihres Zöglings ist es womöglich, der auf das Schicksal der Familie im Jahre 1918 hinweist. Der kalte Atem des Todes.