Die DDR ist seit mehr als 30 Jahren Geschichte, aber diese Geschichte ist immer noch sehr lebendig. Nicht nur gesellschaftlich, sondern auch kulturell begleitet uns die DDR auch heute noch und insbesondere im filmischen Bereich ist sie weiterhin sehr präsent. Mittlerweile gibt es zahlreiche Filme und Serien, die mal eher komödiantisch den Alltag thematisieren, wie etwa Leander Haußmanns Sonnenallee, aber auch Filme, die sich mit dem Überwachungsapparat dieses diktatorischen und menschenverachtenden Systems auseinandersetzen, wie Das Leben der Anderen. Wenn man Franziska Stünkels Film Nahschuss sieht, wird man unweigerlich an Florian Henckel von Donnersmarck oscarprämiertes Werk Das Leben der Anderen denken. Beide Filme weisen inhaltliche und thematische Parallelen auf. Sie handeln beide von Personen, die für die Staatssicherheit arbeiten und zunächst von ihrer Arbeit und dem Sinn dieser Tätigkeit überzeugt sind, bis ihnen irgendwann Zweifel kommen.
Während aber die von Ulrich Mühe (Funny Games) in Das Leben der Anderen verkörperte Figur des Hauptmanns Gerd Wiesler bereits zu Beginn des Films fest im System und der Stasi verankert ist, sieht die Situation für den jungen Franz Walter (Lars Eidinger, 25 km/h) ganz anders aus. Er hat gerade erfolgreich promoviert und befindet sich bereits im Flugzeug nach Äthiopien, als er plötzlich gebeten wird, das Flugzeug zu verlassen. Unterstützt von seiner ehemaligen Professorin (Victoria Trauttmansdorff, Das schwarze Quadrat) wird ihm ein einmaliges Angebot gemacht. Er soll ihre Nachfolge antreten und damit viel schneller als üblich Gelegenheit haben, die akademische Karriereleiter nach oben zu klettern. Die einzige Bedingung ist, dass er ein Jahr für die Hauptverwaltung Aufklärung des Auslandsnachrichtendienstes der DDR arbeiten soll. Geblendet von der einmaligen Chance und den weiteren damit verbunden Vergünstigungen, wie eine eigene Wohnung, sagt er zu, in dem Glauben etwas Gutes für sein Land zu tun.
Franziska Stünkel (Vineta) gelingt es mit Nahschuss einen anderen Schwerpunkt zu setzen. Mit Franz Walter steht ein normaler Mensch im Mittelpunkt der Handlung, der mehr oder weniger unfreiwillig für die Staatssicherheit tätig wird. Er ist im sozialistischen System der DDR aufgewachsen und durch dieses sozialisiert worden. Für ihn stellt sich nicht wirklich die Frage, ob er das Angebot annimmt, da er zum einen weiß, dass er ein solches Angebot nie wieder bekommen wird und zum anderen glaubt er zu diesem Zeitpunkt auch das Richtige zu tun. Er stellt das System nicht infrage, auch nicht, als er erfährt, dass er einen aus der DDR geflohenen Fußballspieler im Westen überwachen und diesen im Idealfall dazu bringen soll, zurückzukommen. Die Treue und das Pflichtbewusstsein seinem Staat gegenüber stehen für Franz nie zur Debatte. Während sein Vater (Christian Redl, White Tiger) skeptisch ist, sieht Franz nur die Vorteile seines neuen Jobs und kann auch nicht verstehen, warum der selbst in der DDR privilegierte Fußballer, seiner Heimat den Rücken gekehrt hat, obwohl diese ihn erst groß gemacht hat.
Stünkel zeigt einen Menschen, der durch das System ausgenutzt wird. Das System missbraucht das Vertrauen, das Franz Walter in den Staat hat, in dem er lebt und in dem er aufgewachsen ist. Er ist mehr Opfer als Täter und das wird im Verlauf des Films schnell klar. Nahschuss schafft es geschickt aufzuzeigen, wie schnell jeder von einer derart geschickten Manipulation dazu verleitet werden kann, Dinge zu tun, die dem eigenen Gewissen widerstreben, ohne es vielleicht zu merken. Franz gerät immer tiefer in die Fänge des Systems. Er wird abhängiger und erpressbarer. Als er merkt, mit welchen Mitteln die Stasi tatsächlich arbeitet und dass man vor nichts zurückschreckt und dabei auch unschuldige Personen oder die Familie der vermeintlichen Staatsfeinde mit hineinzieht, ist es bereits zu spät. Franz hat sich bereits unabkömmlich gemacht und ist in dem riesigen Netz der Spinne des Staatsapparates gefangen. Er kann seine weitere Arbeit nicht mehr mit seinem Gewissen vereinbaren und versucht auszusteigen, aber ein Ausstieg ist folgenlos nicht mehr möglich, nicht für ihn und nicht für seine Familie.
Regisseurin und Drehbuchautorin Stünkel hat sich für Nahschuss lose am Leben des Dr. Werner Teske orientiert und dieses als Grundlage für den Film genommen. Auch andere im Film vorkommende Ereignisse erinnern an wahre Vorkommnisse. Die Szenerie um den Fußballer im Film weist Parallelen zu dem Fall des aus der DDR geflohenen Nationalspielers Lutz Eigendorf auf. Stünkel hat sich bereits bei der Drehbuchentwicklung Lars Eidinger, Devid Striesow (Ich bin dann mal weg) und Luise Heyer (Lauras Stern) als Darsteller für ihren Film vorgestellt und diese auch früh mit ins Boot geholt. Insbesondere Eidinger hatte seine Zusage bereits in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung gegeben, sodass Stünkel das Drehbuch perfekt auf ihn zuschneiden konnte. Eidinger liefert auch ein großartiges Schauspiel ab und verkörpert den zuerst etwas naiven Franz Walter, dem sich später zwar die Augen öffnen, der aber doch noch machtlos, fast schon ohnmächtig gegen Windmühlen kämpft, bravourös. Die Ausweglosigkeit der Situation von Franz Walter wird auch bildlich passend eingefangen, da die Szenerie zunehmend dunkler wird, als gäbe es kein Licht am Ende des Tunnels.
Nahschuss schafft es, das perfide System der Stasi offenzulegen und zu zeigen, dass nicht jeder, der für oder mit der Stasi gearbeitet hat, dies auch freiwillig tat. Wer dem Anwerbeversuch widerstand, hatte mit Konsequenzen zu rechnen und wer aussteigen wollte ebenso, und zwar nicht nur für sich selbst. Der Film wirft ein anderes Licht auf diejenigen, die in dem System gefangen waren. Mit mehreren Jahren Abstand ist es sehr leicht Menschen zu verurteilen und zu sagen: „Wenn ich damals gelebt hätte, dann hätte ich niemals für die Stasi gearbeitet! Niemals! Ich doch nicht!“Nahschuss öffnet einem geradezu die Augen und zeigt, dass diejenigen, die sich damals für diesen Weg „entscheiden mussten“ menschlicher waren als man denkt und entweder völlig naiv an die Güte ihrer Heimat geglaubt haben oder mit radikalen Mitteln unter Druck gesetzt wurden und erkannten, dass die Gesundheit und das Leben ihrer Familie auf dem Spiel stand. Natürlich entschieden sie sich für ihre Familie statt für die Fremden, deren Leben sie zwar eventuell zerstörten, aber die eigene Familie blieb dafür unversehrt. Nahschuss wirbt für Empathie für Systemopfer unter den Stasimitarbeitern und zeigt, wie mächtig das System war und wie gnadenlos alle zermalmt wurden, die sich dagegen aufgelehnt haben.