Inhalt
Aus einem Tal in den Pyrenäen wird die Landärztin Marianne auf einen abgelegenen Berghof gerufen, um die Bäuerin zu untersuchen. Thomas, der Adoptivsohn der Kranken, gefällt ihr auf Anhieb gut: ein hübscher Kerl mit halbafrikanischen Wurzeln, dessen ruhige männliche Tatkraft sie beeindruckt. Als die Mutter des Jungen ins Krankenhaus muss, fordert Marianne Thomas dazu auf, bei ihr und ihrem ehrgeizigen Sohn Damien in der Stadt zu wohnen, um der Mutter nahe zu sein. Sie ahnt nicht, dass die beiden sich nicht mögen und in der Schule beim geringsten Anlass aufeinander losgehen. Doch als Marianne ihre Raufereien entdeckt, weiß keiner zu sagen, woher die seltsame Feindschaft eigentlich rührt...
Kritik
Mit blitzschneller Selbstverständlichkeit bricht Thomas dem Huhn das Genick, als wäre es der Bestandteil einer täglichen Routine. Das tote Tier betrachtet der Adoptivsohn einer Bauernfamilie als Geschenk für die Ärztin Marianne, nachdem diese nach Thomas‘ erkrankter Mutter gesehen hat und sich um deren baldige Genesung kümmern will. Auf den physisch brachialen Akt der Tötung reagiert Marianne mit einer Mischung aus Erschrecken und Erstaunen, doch spätestens ab diesem Moment kann sie sich einer gewissen Faszination gegenüber der Präsenz des attraktiven, etwas verschüchterten 17-Jährigen kaum noch entziehen.
Zwischen Thomas und Mariannes gleichaltrigem Sohn Damien scheint sich parallel ein ganz ähnliches und doch eher gegensätzliches Verhältnis zu entwickeln, bei dem die physische Präsenz der Jugendlichen ebenfalls eine bedeutende Rolle spielt. Es beginnt damit, dass Thomas seinem Mitschüler im Klassenzimmer ein Bein stellt und führt schnell zur ersten Schlägerei, bei der sie nur schwer voneinander getrennt werden können. Die Auseinandersetzung und Konfrontation mit der überwiegend unkontrollierten Körperlichkeit seiner Figuren zeichnet sich durch diese anfänglichen Szenen schnell als eine Art Leitmotiv ab, das sich durch André Téchinés (Weit weg) Mit Siebzehn zieht.
Der Regisseur inszeniert seine Geschichte über jugendliches Heranwachsen und die verschiedenen Komplikationen damit einhergehender Emotionen als einen Film, der sich selbst dauerhaft in Bewegung befindet und dort ansetzt sowie nach tiefgreifenden Gefühlen forscht, wo die dazu passenden Worte ausbleiben. Losgelöst vom eigentlichen Inhalt der Bilder erzählt bereits Julien Hirschs leicht unruhig geführte Handkamera von einem nervösen Zittern, das sich unmittelbar auf die zentralen Figuren übertragen lässt. Neben dezent eingestreuter Musikuntermalung ist es das einzige auffällige Stilmittel, das Téchiné verwendet, um einen nach außen verlagerten Ausdruck für die innere Verfassung von Thomas und Damien zu finden.
Als würden ihre Körper unaufhörlich unter Hochspannung stehen, suchen die beiden ständig nach Möglichkeiten, um sich selbst in Bewegung zu halten. Damien bekommt Boxtraining von einem Freund seines Vaters, der viele Monate des Jahres von der Familie getrennt als Militärpilot in Einsätze geschickt wird, während sich Thomas auf dem Bauernhof seiner Adoptiveltern körperlich betätigt und den insgesamt dreistündigen Schulweg überwiegend zu Fuß auf sich nimmt. Befriedigende Erfüllung und wütende Auslastung scheint sich bei den beiden, aus so unterschiedlichen erzieherischen Milieus stammenden, Jugendlichen jedoch nur einzustellen, sobald ihre Körper wuchtig und schmerzhaft in wiederholten Konfrontationen aufeinanderprallen und erst hierdurch unverfälschte Empfindungen zum Vorschein bringen.
Vergleichbar mit dem 2013 erschienenen, vierten Spielfilm Sag nicht, wer Du bist! des 28-jährigen Regie-Talents Xavier Dolan (Mommy), in dem sich sexuelle Spannungen zwischen den Protagonisten über physisch kraftvolle Auseinandersetzungen und bedrohliche Machtspiele entluden, folgt der mittlerweile 74 Jahre alte Téchiné einem ähnlichen Ansatz des filmischen Erzählens. Ebenso roh wie sinnlich widmet sich der Regisseur der adoleszenten Phase im Leben von Thomas und Damien mit neugieriger Spannung, die von einem überraschend einfühlsamen Gespür für die vielschichtigen, komplexen Charakterfacetten der jungen Hauptfiguren zeugt.
Neben dem starken Schauspiel der männlichen Hauptdarsteller Kacey Mottet Klein (Winterdieb) und Corentin Fila (Lieber Leben), die Damien und Thomas in all ihrer sensiblen Verletzlichkeit sowie aggressiven Unsicherheit verkörpern, räumt der Regisseur das Feld gelegentlich für Sandrine Kiberlain (Männer und die Frauen) in ihrer Rolle als Marianne. Da die sympathische, im Umgang mit Patienten oftmals selbstlose Ärztin der Auslöser dafür ist, dass sich das Verhältnis zwischen den Jugendlichen zuspitzt, wird sie von Téchiné als bedeutende Schlüsselfigur gezeichnet. Inmitten des unreifen Kräftemessens der Jugendlichen, dem der Regisseur schlussendlich mit intensivem Optimismus neue Tore öffnet, hat Damiens Mutter ihre ganz eigenen Kämpfe auszutragen, die sie hinter einer warmherzigen, langsam bröckelnden Fassade verbergen muss.
Fazit
Die unsicheren Gefühlsausbrüche zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Jugendlichen inszeniert der französische Regisseur André Téchiné in "Mit Siebzehn" als gleichermaßen rohe wie sinnliche Abfolge physischer Konfrontationen, über die sich nach und nach unverfälschte Gefühle einen Weg an die Oberfläche bahnen. Das Drama mit Elementen aus dem Coming-of-Age-Genre und dem queeren Kino besticht dabei mit einem einfühlsamen Blick für entscheidende Regungen und Details in den Verhaltensweisen der Figuren, die von vortrefflich besetzten Schauspielern dargestellt werden.
Autor: Patrick Reinbott