„Es gibt nur einen Menschen, der uns aus unserem Trott herausreißen kann.“
Recht soll Charlie (Teresa Wright, „Die besten Jahre unseres Lebens“) behalten. Angeödet ist die junge Frau von der sicheren, geregelten, gutbürgerlichen Tristesse ihres Alltags. Ein Tag gleicht dem anderen. Sie liebt ihre Familie, keine Frage. Ihre warmherzige, unbedarfte, leicht naive Mutter, ihren Vater, einen ausgeglichenen, sanftmütigen Bankangestellten, ihre kleinen Geschwister, wohlerzogen und für ihr Alter ungewöhnlich intelligent, schon bald altklug. Sie selbst bildhübsch, beliebt und eine Vorzeigeschülerin. Gerade dieses Abziehbild der amerikanischen Bilderbuchfamilie, ohne Ecken und Kanten, beginnt sie zu langweilen. Genau jetzt kommt die „Erlösung“ in Form eines Telegramms: Ihr Lieblingsonkel (ebenfalls) Charlie kündigt seinen Besuch an. Der coole Onkel Charlie wird den erwarteten Schwung bringen. Allerdings anders, als ursprünglich erhofft. Mit ihm dringt das Böse in das gutbehütete Spießbürgerleben ein. Home-Invasion à la Hitchcock.
„Im Schatten des Zweifels“ gilt als Lieblingswerk seines Regisseurs, vielleicht auch da Alfred Hitchcock („Cocktail für eine Leiche“) hier mit sichtlichem Genuss dem Teufel Einzug in die Idylle des amerikanischen Vorstadttraums verschafft. Einen gewissen Hang zum Sadismus gegenüber seiner Figuren konnte man ihm nie absprechen, wenn auch mit Respekt. Bei diesem Film geht es ihm nicht darum, den Zuschauer in irgendeiner Form zweifeln zu lassen. Hinter der charmanten, weltgewandten Maske des allseits beliebten, von seiner ältesten Nichte nahezu vergötterten Charlie (exzellent: Joseph Cotten, „Der dritte Mann“) steckt ein eiskalter Verbrecher, ein Misogyn, ein berechnendes Monster. Daraus macht Hitchcock kein Geheimnis, zumindest für das Publikum. Er lässt es zusehen, wie er sich im Schoß seiner nichtsahnenden Familie einnistet, sich als gönnerhafter Mann von Welt präsentiert und speziell die junge Charlie mühelos um den kleinen Finger wickelt. Eigentlich muss er dafür gar nichts großartig tun, sie liegt ihm eh zu Füßen. Ausgerechnet sie wird es sein, die beginnt zu zweifeln. Durch ihre scharfe Beobachtungsgabe stolpert sie über offensichtliche Geheimnisse ihres Idols, lockt ihn versehentlich sogar für Sekundenbruchteile aus seiner perfekten Tarnung. Ihr Bild von ihm bekommt erste Risse, beginnt zu bröckeln und stürzt bald gänzlich in sich zusammen, während niemand sonst auch nur einen blassen Schimmer von dem wahren Gesicht des smarten Verwandten hat.
Ein wahrlich perfides Spiel, das Hitchcock hier mit seiner Protagonistin treibt. Wie er ihre innere Zerrissenheit, ihr Dilemma zum Hauptbestandteil der Handlung erhebt. Obwohl sie sich der Schuld ihres Onkels bewusst ist, ihn mehr oder weniger damit konfrontiert und erlebt, wie sich seine umschmeichelnde Zuneigung zu ihr in eine zwar nie direkte, dennoch unmissverständliche Bedrohung verwandelt, weiß sie nicht recht damit umzugehen. Die innige Zuneigung weicht Abscheu und Furcht, doch was kann/soll/muss sie nun machen? Ihn ans Messer zu liefern, was ihr mit dem Auftauchen zweier Detektive ein Leichtes wäre, kann sie trotz der schwelenden Gefahr nicht bedingungslos mit sich vereinbaren. Das von ihr anfangs noch als langweilig abgetane, heile Familienbild kann und will sie nicht mit einem Ruck zerstören, ihren Liebsten die Wahrheit über den Dämon in den eigenen Reihen offenbaren, sogar ihn selbst will sie (wenn auch zum Teil unbewusst) noch schützen. Verschwinden soll er, als wäre es nie passiert. Doch für ihn wäre es damit nicht getan. Mitwisser, und wenn es die eigene Nichte ist, kann man nicht dulden. Von beiden Seiten, aus ihrer jeweiligen Sicht, verständlich. Zusteuernd auf die logische Konsequenz.
Hitchcock lässt sich ausgiebig Zeit für eine sinnvolle, angebrachte Exposition, verliert die narrative Dynamik dabei nie aus den Augen. Das beherrschte der Mann schon immer. Ebenso wie eine perfektionistische Inszenierung. Jeder Kamerawinkel, jeder Schnitt ist exakt durchdacht und arrangiert. Er steigert die Spannung konstant, tatsächlich ohne größere Überraschungen in den Plot einzubauen. Eigentlich ist es eben dieses Spiel mit den offenen Karten, die gewollte Vorhersehbarkeit des Geschehens, die für Anspannung sorgt. Was passieren wird, ist relativ schnell klar. Die Frage ist nur, kann seine Heldin sich retten oder wird sie zum Opfer ihrer Unentschlossenheit, ihrem Versuch, die Sache für alle Beteiligten halbwegs glimpflich zu beenden?