Ganze 11 Jahre, von 1974 bis 1985, ist Regisseur Claude Lanzmann („Der letzte der Ungerechten“) durch die Welt gereist. Er war in Polen, in Deutschland, in Israel und in den Vereinigten Staaten, um Überlebende des Holocaust aufzusuchen. Zeitzeugen, die Teil der Deportation und der Massenvernichtung der Juden waren – Opfer wie Täter. Ganze 4 Jahre hat die Montage in Anspruch genommen, um 350 Stunden Material zu einem 9 ½-stündigen Dokumentarfilm zusammenzufassen, welcher unlängst als filmisches Referenzwerk innerhalb dieses erschütternden Themenkomplexes gilt. Tatsächlich wird man nach Ansicht von „Shoah“ insistieren, diese Superlative weiterhin hochleben lassen: „Shoah“ ist in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung das Maß aller Dinge; ein Ausnahmewerk, welches versucht, durch die Schilderungen der Hinterbliebenen, durch das Besuchen der Plätze, an denen ehemals die Konzentrationslager ihrer Funktion als Fließbänder des Todes nachkamen, das Unbegreifliche, fernab jedweder akademischer Etikette, greifbar zu machen.
„Bisher haben alle Filmarbeiten über den Holocaust versucht, diesen aus der Geschichte und der Chronologie herzuleiten; man Beginnt 1933 mit der Machtergreifung der Nazis, - zuweilen sogar noch früher mit Ausführungen über den deutschen Antisemitismus im 19. Jahrhundert...- und man versucht, Jahr für Jahr, Schritt für Schritt, geradezu harmonisch möchte man sagen, zur Vernichtung vorzudringen. Als wäre die Vernichtung von sechs Millionen Männern, Frauen und Kindern, als wäre ein solcher Massenmord einfach ableitbar. ...Die chronologische Erzählung ist, weil sie nichts ist als eine simple Abfolge des Vorher und Nachher, zutiefst un-tragisch, und der Tod kommt, wenn er eintrifft, immer zur rechten Stunde, nicht-gewaltsam, nicht-Skandalös. Die sechs Millionen ermordeten Juden sind aber nicht gestorben, weil ihre Stunde gekommen war, und daher muss jedes Werk, das dem Holocaust heute gerecht werden will, zuallererst mit der Ordnung der Chronologie brechen.“
Und Claude Lanzmann, von dem dieses Zitat stammt, hat mit der Ordnung der Chronologie gebrochen. „Shoah“ ist keine Aufeinanderfolge schrecklicher Ereignisse, in dem der Massenmord zum logischen Konklusion gerät. Lanzmann sucht den Menschen und macht das Grauen des Holocaust, welches weiterhin metaphysisch über den satten Grünanlagen, den Gedenkstätten und den Touristenattraktionen, zu denen die Lager inzwischen „verkommen“ sind, dräut, zur qualvollen Reise durch den innerseelischen Raum der Erinnerungen. Man möchte sie beinahe friedlich bezeichnet, die Wälder von Belzec und Treblinka, wären sie nicht von einer ganz schauderhaften Stille ummantelt worden. Es sind abstrakte, nur augenscheinlich von der Natur zurückeroberte Orte, „Nicht-Orte“, wie Claude Lanzmann überaus passend beschrieb, die scheinbar ein provinzielles Idyll verheißen, doch im Wind finden die Schreie der Vergangenheit bis heute ihren Widerhall. Und alles in „Shoah“ artikuliert sich in der Sprache der Vergangenheit: Die umwucherten Grundmauern und Gleisstränge; die bejahrten Gesichter der Beteiligten.
Als Zuschauer gerät man zusehends in eine Situation emotionaler Überforderung (was vermessen scheint, angesichts der Erfahrungen, die hier wiedergegeben werden): Immerzu wähnt man sich in der Frage, wie es möglich ist, derartige Verbrechen an seinesgleichen zu verüben? Und tatsächlich ist es „Shoah“ daran gelegen, aufzuzeigen, dass das Unbegreifliche immer unbegreiflich bleiben wird. Weil wir mit einer unvorstellbar differenten Kraft an Erinnerung und Verdrängung in Berührung geraten, der wir selbst im Zuge irrationaler Gedankenentgleisung nicht gewachsen sind. Doch „Shoah“ gibt uns die Möglichkeit, fremde Erinnerungen auf einer persönlichen, einer intimen Ebene erfahrbar zu machen. Wenngleich der Einfühlungsprozess in Bezug auf das reelle Erleben einem Miniaturfragment gleicht, werden wir die Menschen, die sich um Fassung bemühen, nach Luft ringen und zusammenbrechen; die sich voller Stolz damit brüsten, wichtige Ämter innerhalb der Arbeitslager übernommen zu haben, doch nie vergessen. Ihre Wiedergaben überdauern die Ewigkeit – und Claude Lanzmann schenkt ihnen Gehör. Wir hingegen müssen endlich lernen, zuzuhören.