Ein guter Horrorfilm entsteht im Kopf. Als findiger Regisseur hat man lediglich die Aufgabe, die Vorstellungskraft des Zuschauers zu stimulieren, anstatt ihm das Böse, in welcher Form auch immer, auf dem Silbertablett zu servieren: Nichts macht mehr Angst als die bloße Möglichkeit respektive die schiere Präsenz dessen, was uns nicht begreifen erscheint. Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, die seit Anfang der 1990er Jahre eine enge Freundschaft eint, haben sich diese Maxime zu Herzen genommen, als sie kurz vor der Jahrhundertwende mit Blair Witch Project Geschichte schrieben. Denn, egal wie man zu dem Found-Footage-Horror stehen mag, ob man sich mit seiner Ästhetik anfreunden kann oder nicht, muss man ohne inneren Widerstreit zugeben, dass Blair Witch Project, zusammen mit Wes Cravens Slasher-Paraphrase Scream – Schrei!, den wohl wichtigste Genre-Beitrag der Dekade darstellt.
Während Wes Craven den genuinen Mittelweg zwischen bauchigem Zugeständnis an das eigene Sujet und verkopfter Metatextualität gefunden hat und ein vergessenes Genre revitalisierte, funktioniert Blair Witch Project auf einer rein affektiv-sensorischen Ebene – und revolutionierte dadurch den Found-Footage-Stil. Myrick und Sánchez setzen kein Fachwissen voraus, stattdessen haben sie ein bedrückendes Protokoll der Beklommenheit entworfen, dem es schlicht und ergreifend darum geht, Todesängste erfahrbar zu machen – und diese Rechnung ging auf. Wer sich damals in einer der unfassbar erfolgreichen Kinovorstellungen wiedergefunden und erlebt hat, wie die schwarze Leinwand den gesamten Saal in Finsternis hüllte, bis einzig die Schreie aus den Tiefen des Waldes das Hirn zermarterten, der weiß, mit welcher Effektivität Blair Witch Project den gefestigten Gemütszustand seiner Zuschauerschaft aus der eigenen Komfortzone zu reißen vermochte.
Dabei ist die Ausgangslage ganz klassisch gehalten und setzt sich aus einer dreiköpfigen Gruppe an Studenten (Heather Donahue, Joshua Leonard, Michael C. Williams) zusammen, die es für eine Semesterarbeit in die Gemeinde Burkittsille, Maryland zieht, um der Legende um die Hexe von Blair auf die Spur zu kommen. Die Interviews mit den Bewohner des heimeligen Provinznestes sorgen alsbald dafür, dass diese Legende an Gewicht gewinnt und Blair Witch Project es sich richtig gemütlich im Anklang einer folkloritischen Gruselgeschichte machen kann, für die die beiden Regisseure im Vorfeld sogar eine historische Zeitlinie kreierten, die bis ins späte 18. Jahrhundert zurückreicht, um gehörig Zweifel zu bemühen, ob der Mythos rundum die Hexe von Blair nicht doch tatsächlich einen gewissen Wahrheitsgehalt aufweisen kann. Jahre nach dem beispielhaft brillanten Marketing kann hinsichtlich dessen nun für Entwarnung gesorgt werden.
Mag die Hexe und all ihre furchterregenden Ausformungen reine Fiktion bleiben, Blair Witch Project versteht das Kino noch als nimmermüde Illusionsmaschinerie und fährt durch seinen stilistischen Anspruch auf Authentizität zusehends unter die Haut: Von Hinterlandromantik im Oktoberwind kann bald keine Rede mehr, stattdessen bricht das improvisierende Trio (welches auch in Realität von Tag zu Tag weniger Essensration gestellt bekam, damit sich das Konfliktpotenzial merklich steigerte) physisch und psychisch mehr und mehr ein, verliert die Orientierung und sieht sich einer Gefahr ausgesetzt, die derart verstörend auf das Nervenkostüm des Publikums einwirkt, weil sie sich gänzlich gestaltlos artikuliert – Was bleibt, ist die alleinige Idee vom Schrecken, aber keinerlei Perspektive, dieses zu materialisieren, um es, möglicherweise, im nächsten Schritt verstehen und besiegen zu können. Dieser Film nimmt Panik noch wortwörtlich.