So etwas kann uns nie wieder geschehen. Nie wieder werden wir so naiv sein. Nie wieder werden wir den Versprechungen eines Demagogens lauschen. Jahrzehntelange Erinnerungskultur hat uns reifen lassen. Unsere Institutionen sind stärker und wehrhafter denn je. In unseren Schulen wird wohl kein Thema intensiver behandelt als das 3. Reich. Noch nie waren wir so aufgeschlossen und progressiv. Noch nie waren wir global so gut vernetzt. Noch nie waren wir so individualistisch. Noch nie haben wir in so großem Wohlstand gelebt. So schön diese liberalen Narrativen auch anmuten mögen: es passiert trotzdem. In Deutschland sitzen mittlerweile Faschisten in den Landtagen, der rechtsextreme Terror nimmt von Jahr zu Jahr zu, rechtes Vokabular bahnt sich seinen Weg in die Mitte der Gesellschaft und in manchen Reihen kündigt sich ein Autoritätsfetisch an, die Sehnsucht nach einem starken Mann, der alles wieder in die rechten Bahnen lenkt.
Es scheint demnach die richtige Zeit zu sein, um zu einem Film wie Die Welle zurückzukehren, der anhand des Mikrokosmos einer Schulklasse aufzuzeigen versucht, wie schnell sich faschistische Ideologien verbreiten und zur Eskalation führen können. Der Gymnasiallehrer Rainer Wenger (Jürgen Vogel, Schoßgebete) wollte im Rahmen der Projektwoche das Thema "Anarchie" leiten, doch stattdessen wird ihm aus purer Willkür das Projekt "Autokratie" zugeteilt. Zuerst wenig motiviert, entscheidet er sich dazu, das Thema etwas experimenteller anzugehen. Er versucht, aus der Schulklasse seine eigene kleine Autokratie zu basteln, um den Schülern aufzuzeigen, dass auch sie das Potential in sich tragen, sich einem faschistischen Regime zu unterwerfen, dass auch heute noch die Türen weit offen stehen für Autoritäre aller Couleur. Dabei fängt Wenger ganz unschuldig an: Der sonst so lockere Lehrer besteht darauf, mit Nachnamen angesprochen zu werden, er motiviert seine Schüler, sich am Unterricht zu beteiligen und ändert die Sitzordnung, damit leistungsschwächeren Schülern geholfen wird. Das Projekt nimmt schnell Fahrt auf und bald marschiert die Klasse im Gleichschritt, trägt Uniformen und stimmt über einen Kollektiv-Namen ab.
"Die Welle" ist geboren und gewinnt auch über die Grenzen des Klassenraums hinaus immer mehr an Bedeutung. Die Mitschüler empfinden ein Gemeinschaftsgefühl zueinander, stehen sich im Alttag bei, stacheln sich jedoch ebenso zu Straftaten an und beschneiden sich in ihren Freiheiten. Der Film skizziert diese Eskalationsdynamik bis zum bitteren Ende, das sich als Referenz an Full Metal Jacket lesen lässt: Sei es Tim (Frederick Lau, Nightlife) oder Leonard Lawrence (Vincent D´Onofrio, Men in Black) - am Ende muss das Individuum unter der Macht kollabieren. Die Erzählung steht dem konträr gegenüber, indem sie den einzelnen Schülern ein Gesicht verleiht, sie als Individuen anerkennt, und von ihren Lebensumständen berichtet. Dabei täuscht das passable Schauspiel aller Beteiligten nicht darüber hinweg, wie formelhaft diese Charakterisierungen ausfallen: Familiäre Konflikte, Beziehungskrisen und Mobbing - all diesen Problemen kann Dennis Gansel (Die vierte Macht) nichts Neues abgewinnen. Stattdessen wird man den Eindruck nicht los, es handelt sich um Platzhalter, die die Narrative des Filmes bekräftigen sollen.
Es ist besonders tragisch, dass Die Welle die Hintergrundgeschichten lapidar als Instrumente abtut, wenn er doch kritisieren möchte, wie das Individuum sich für einen vermeintlich höheren Zweck aufopfert. Doch auch davon abgesehen fühlt sich das Werk allzu pädagogisch an. Wie am Reißbrett entworfen trägt es die Stützen faschistischer Ideologien Schritt für Schritt vor. Das hat den Effekt, dass der Film eher etwas von einem Veranschaulichungsmaterial hat, das ein Geschichtslehrer seiner 10. Klasse vorführen und anschließend noch ein "Ja, ja...da seht ihr es" hinterher murmeln kann, während seine Schüler bereits ihre Sachen zusammen packen. Wer es in der Schulzeit noch nicht einsehen wollte, der wird es durch diesen Film sicher auch nicht einsehen. Im Gegenteil, der pädagogische Charakter des Werkes führt bei ihnen wohl zu dem selben genervten Augenverdrehen, das die Schüler von Herrn Wenger zu Beginn des Filmes aufführen.
In jeglichen Belangen ist Die Welle zu zahm und berührt das Thema mit den Fingerspitzen, um den Eindruck von Feingefühl zu erwecken. Dieses hätte er unter Beweis stellen können, wenn er sich tatsächlich getraut hätte, seinen Gegenstand nicht nur an der Oberfläche abzuhandeln: Welche Einflüsse führen dazu, dass Jugendliche faschistischen Ideologien verfallen? Mit welchen Ästhetiken ist Faschismus verbunden? Welche politischen Umstände führen das Individuum dahin? All diese Fragen klingen sicherlich an, erhalten jedoch maximal schablonenhafte Antworten. Das Paradebeispiel dafür ist eine Szene zu Beginn des Filmes, in der einer der Jungs in einem Club ist und mehr oder weniger kontextlos von sich gibt, dass das Problem seiner Generation ja wäre, dass es keine ordentliche Gemeinschaft mehr gäbe. Um tiefer zu gehen, hätte der Film sein Thema als ein politisches oder existenzielles begreifen müssen, das führt jedoch am Selbstverständnis des Werkes vorbei, das sich eher als moralisch-mahnender Zeigefinger entpuppt, als als ernst gemeinte Studie.