Das Frankreich der sechziger und siebziger Jahre hat eine Vielzahl von erfolgreichen, künstlerisch wertvollen bis genialen Filmemachern hervorgebracht. Doch auch wenn sich die Namen zur Nouvelle Vague meistens auf enfant terribleJean-Luc Godard (Die Verachtung) und Philanthrop Francois Truffaut (Sie küssten und sie schlugen ihn) beschränken, werden viele andere eher als zweitrangig erachtet. Eric Rohmer zum Beispiel, der mit seinen Zyklen einige beeindrucken konnte. Oder Jacques Rivette, Louis Malle und Alain Resnais. Doch zum Kern der Strömung gehörte auch der werte Herr Claude Chabrol, der zudem den ersten offiziellen Film der Nouvelle Vague inszenierte - Die Enttäuschten aus dem Jahr 1958. Chabrol, dessen Todestag sich in knappen Monat jährt, hat eine riesige Filmographie aufzuweisen, der er über fünf Jahrzehnte hinweg Filme hinzukommen ließ. Vor Einbruch der Nacht, der gewissermaßen als Fortsetzung zu Die untreue Frau gilt, ist dabei ein Highlight seines Oeuvres.
Dass Chabrol ein äußerst visueller Erzähler ist, beweist er dabei schon von Beginn an. Wir sehen das Gesicht des Protagonisten Charles im Profil, seine Konturen sind von einer pechschwarzen Dunkelheit umgeben. Hier wartet er auf das Verderben, die Versuchung, die Gefahr. Chabrol stellt Charles (dargestellt von Michel Bouquet, Nacht und Nebel) abgeschieden von seiner Umwelt dar. Er ist allein in der Dunkelheit, nicht ängstlich jedoch, als wisse er genau, was in der Dunkelheit auf ihn wartet. Sobald das deutlich ist, zeigt Chabrol dem Zuschauer, was Charles wusste. Der Hintergrund hellt sich auf und offenbart seinen Inhalt - eine nackte Dame, die auf Charles wartet. Das Verderben, die Versuchung, die Gefahr. Die beiden vollführen ein SM-Spielchen, es geht um Zwang, Macht, Gewalt und den konkreten Diebstahl. Letzterer funktioniert jedoch auf mehrere Ebenen, denn es geht nicht nur um die Kette, die gestohlen wird, sondern auch um Zuneigung, Zärtlichkeit und die Fähigkeit des Atmens.
Nicht zufällig weist das Schlafzimmer Ähnlichkeiten zu einem Dschungel auf, die Wände sind in verschiedensten Grüntönen gehalten, die Vorhänge mit grünlichen Mustern, mit Ranken. Es ist die stille Natur einerseits, die ungebändigte und regelbefreite Natur andererseits. Der Mensch besinnt sich zurück auf seine ursprüngliche Herkunft. Das Design des Schlafzimmers von Charles’ Bettgeschichte Laura (Anne Douking, Vier im roten Kreis) ist für sich genommen schon bemerkenswert, im Vergleich zum Schlafzimmer in Charles’ eigenem Haus jedoch noch weitaus interessanter. Das ist nämlich vorrangig rot gehalten, mit Wänden, die irgendwann mal Weiblichkeit und Wärme ausstrahlten - einzig die getrennten Einzelbetten mögen da nicht so richtig in das Konzept passen. Charles ist nach seiner Tat gegenüber Laura von Gewissensbissen geplagt, überlegt, sich zu stellen, es zu verheimlichen, seiner Frau das Herz zu brechen und seine Familie bloß nicht zu ruinieren. Hin- und hergerissen erscheint er bereits nach wenigen Minuten und wandert von einem Ort zum nächsten; stets umgeben von Dunkelheit und Anonymität oder gleißenden Lichtstufen, wenn quasi jeder Mensch sein Geheimnis zu wissen scheint.
Ein weiteres Element, welches Chabrol stets gerne einzusetzen scheint und das dessen Talent als visueller Erzähler untermauert ist in den Gesichtern sämtlicher Figuren zu finden. Vor Einbruch der Nacht ist ein Film der Blicke. Blicke, die mehr über die Charaktere sagen als das, was sie tatsächlich sagen. Blicke, die nicht von dem selbstbewussten und strategischen Teil des Gehirns gefiltert werden können, um sich einen Vorteil in einer gegebenen Situation zu verschaffen. So zeigt Chabrol wie Hinterbliebene und die Polizei aneinander vorbeireden; sie sitzen voneinander abgewandt, obwohl sie in einer extrem emotional-intimen Situation stecken. Die Bourgeoisie hat für ihr Leben das Recht zu Fühlen verkauft. Charles gibt nach außen hin stets das Unschuldslamm (sein betont sauberer Mantel) und doch ist er stets in Gefahr und dem Dreck seiner Seele ausgeliefert. Chabrol findet immer wieder interessante Wege, um das zu symbolisieren. Familientreffen bestehen aus aufgesetzten Höflichkeiten und Klatsch und Tratsch, wirklich miteinander reden tut dabei niemand.
Dieses Motiv des aneinander vorbeireden greift Chabrol immer wieder auf und treibt es auf die Spitze. Die Kommunikation wird ins Absurde fortgeführt, ein Satz wird vom darauf folgenden diskreditiert, unterlaufen oder karikiert. Das führt soweit, bis Verbrechen, Unethik und Amoralität nicht verurteilt werdn, sondern am liebsten verdrängt. Nur Charles, der kann es nicht verdrängen, er frönt der Selbstdestruktion, wie es schon die arme Laura tat, die gewürgt werden wollte. Erst in der Zerstörung finden die Eheleute Charles und Hélène (Stéphane Audrane, Die untreue Frau) Gemeinsamkeiten, erst im Verenden wird die Distanz überbrückt. Chabrol hält der Gesellschaft einen unangenehmen Spiegel vor, vor dem man am liebsten die Augen verschließen würde, wenn man denn könnte. „Möge Gott sich unserer erbarmen.“ Der letzte Satz des Films gehört dann der Großmutter, die einen weiteren großen Verlust relativiert. Hélène widmet ihr einen Blick, würde ihr wohl am liebsten widersprechen. Aber sie sagt nichts. Sie schaut nur.