Inhalt
Becky, Maik und Tommi sind ein Trio rechtsradikaler junger Menschen, die ihre eigenen Terrorzelle gründen. Während sie sich im Untergrund versteckt halten, ist es ihr größter Traum, mit ihren Anschlägen in ganz Deutschland für Aufsehen zu sorgen. Um dieses Level von bundesweiter Aufmerksamkeit zu erreichen, verüben sie mehrere Verbrechen, die von Zerstörung bis zu brutaler Gewalt reichen. Doch aus ihren Idealen von Loyalität, Ehre und Stolz wird zusehends eine Orientierungslosigkeit als Liebe sich in Hass und Leidenschaft sich in Mordlust verwandelt.
Kritik
Eine dreiköpfige Terrorzelle versetzt Köln in Fassungslosigkeit und Angst. Zwei Männer und eine Frau, die vorerst nur reden, streiten und schreien. „Es muss mal wieder richtig knallen“, heißt es dann. Das tut es noch früh genug, wenn sich die explizite Vögelei zwischen aufgesetztem Machotum und zwanghaftem Trieb mit dem erschreckend wahllosen Töten von Menschen mischt, die nicht in deren Weltbild passen. In seiner Figurenkonstellation erinnert Wintermärchen dabei unweigerlich an die NSU, einer Zuschreibung, von welcher sich Regisseur Jan Bonny (Gegenüber) distanziert. Sein Film will kein Tatsachenbericht sein, keine akribische Nachstellung und auch kein psychologischer Erklärungsversuch. Er ist damit gleichsam spezifisch und allgemein, weil er einerseits tief in die Abgründe eines fehlgeleiteten Dreigespanns eindringt und andererseits unweigerlich eine gewissermaßen universelle Aussage über die Motivation und den Hintergrund rechtsradikaler Terrorzellen evoziert.
Jan Bonnys filmisches Konzept ist im gleichen Maße radikal wie seine drei Hauptfiguren. Seine Zuschauer lässt Wintermärchen nämlich gänzlich allein. Er reicht ihnen keine helfende Hand, nicht einmal einen rettenden Strohhalm, an den sie sich klammern könnten. Zwei Stunden unter Menschen, mit denen man eigentlich keine einzige Sekunde verbringen will. Unermüdlich begleitet die Kamera drei Darsteller, die in ihren Figuren aufgehen und sowohl ihre eigene, als auch die Schmerzgrenze des Zuschauers, überschreiten. In Bonnys abseitigem Märchen gehen Sex und Gewalt für zwei Stunden eine eigenartige Wechselwirkung ein. Drei Triebtäter, schreiend und vögelnd, saufend und mordend. Jede Steigerung an Gewalt zieht auch eine radikalere Form des sexuellen Akts nach sich. Dabei ist der Film erschreckend explizit, geradezu schockierend provokant. Unbequem wäre eine Untertreibung, denn Wintermärchen agiert konstant an der Grenze zwischen Ekel, Fassungslosigkeit und triebgesteuertem Exzess.
Wäre das Thema von Wintermärchen nicht so heikel, könnte man schnell ins Staunen geraten, mit welcher Authentizität und Konsequenz Bonnys Bilder aufgeladen sind. Eine Flucht aus den unterkühlt grauen Bildern gibt es höchstens dann, wenn man den Blick von der Leinwand abwendet. Fast durchgehend operiert er mit Nahaufnahmen und rückt seine Figuren dadurch ins alleinige Zentrum des Films. Ins Zentrum eines Films, der ohne Rücksicht, ohne falsche Sentimentalität und ohne Scheuklappen auskommt. Im Abspann läuft dann eine Akustikversion von Schrei nach Liebe. Jan Bonny und Die Ärzte wissen dabei wohl beide, dass sie es sich zu leicht machen, rechte Gewalt auf ein Defizit an Liebe zurückzuführen. Seinem eigentlichen Ziel den Zuschauer zum Nachdenken anzuregen, zu einer Auseinandersetzung mit der Thematik zu zwingen, kommt Wintermärchen damit jedoch erstaunlich nahe.
Fazit
„Wintermärchen“ passt nur schwerlich in das klassische Korsett der filmischen Bewertung. Jan Bonny liefert einen feuchten (Alb)traum für Neonazis und verblendete Gutmenschen, der seine Zuschauer verstört, schockt, fordert und hoffentlich auch zum Nachdenken anregt. Einen anstrengenderen Grenzgang wird man dieses Jahr im Kino nur schwerlich erleben.
Autor: Dominic Hochholzer