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DerSiegemund

Kritik von DerSiegemund

Gesehen: August, 2020

Diese Kritik enthält Spoiler.

Im Leid vereint - NO MEN NO CRY

Vor dem Ansehen von ROMA war mir vieles gar nicht klar. Erstens rechnete ich eher mit einem Film über die Ethnie der Roma und zweitens hätte ich nicht gedacht, dass der Einblick in die mexikanische Gesellschaft zu Beginn der 70er Jahre so interessant sein kann. Da ich also mit einer ganz anderen geografischen und kulturellen Umwelt rechnete und etwas ganz anderes vorfand, war es anstrengend und spannend zugleich herauszufinden wo ich nun gelandet bin. In der Pädagogik nennt man die Methode jemand mit etwas außerhalb seiner persönlichen Präferenzen und Horizonts zu konfrontieren „Zumutung“, also jemanden ermutigen aus seiner Komfortzone herauszutreten und Grenzen zu überschreiten.

Zu Beginn werden indigene Hausangestellten bei der Arbeit gezeigt, die aber auch philippinischer Herkunft hätten sein können, doch dann hört man spanische Sprache, wobei die spanische Sprache auf den Philippinen auch nicht falsch wäre, denn die Philippiner haben spanische Namen und viel spanische Kultur durch ihre spanische Kolonialherren angenommen. Sobald aber die spanischen Hausherren auftreten, deren Hausangestellten die Indigenen sind, wird es klar, dass es Mittel- oder Südamerika sein könnte. Schließlich kann man sich sicher sein, dass man sich in Mexiko befindet, wenn Tacobars, Dias-de-Los-Muertos-Puppen und Präsident Luis Alvarez zu sehen sind. Zeitlich ist das Ganze schwieriger einzuordnen, weil Mexiko damals ein Entwicklungsland war und oft sozialistisch regiert wurde, muss man bei der Mode und bei der Technik schon 10 Jahre Rückständigkeit miteinberechnen, so dass die Mode der 60er Jahre auf die 70er Jahren hindeuten.

Nicht zu wissen wo und wann man gelandet ist, hilft einem sich ganz anders in den Film hineinzudenken. So fielen mir sofort die Klassenunterschiede zwischen den indigenen und spanischen Mexikanern auf und ein gewisser Separatismus, wenn auch kein Rassismus, jedenfalls im Film. Die Indigenen haben weniger Bildung und weniger Einkommen und am Ende deshalb auch weniger Bildungschancen. So vermischt sich die Bevölkerung kaum, sondern bleibt in bestimmten Milieus auch ethnisch verhaftet. Ein Bekannter von mir ist Mexikaner. Als ich ihn darauf ansprach, dass er europäisch aussähe und nicht indigen, hielt er das mit großen Stolz und dem Verweis auf den Sieg der Spanier fest, woraus ich schließen kann, dass es in Mexiko doch so etwas wie einen Rassismus gibt oder mindestens eine Geringschätzung der indigenen Kultur. Selbst orientieren sich die spanischen Mexikaner viel an der amerikanischen Kultur, was man an den Gesprächen über Hollywoodfilmen, Disneyland und American Football festmachen kann. Politisch brisante Dinge über das Verhältnis zwischen Indigenen und Spaniern erfährt man bei ROMA in Nebensätzen, z.B. dass Indigene Landenteignungen erleiden mussten.

Die Klassenunterschiede sind der Hauptaspekt ROMA, denn am Ende gelangt man zu dem Fazit, dass die Klassenunterschiede, wenigstens im gemeinsamen Leid verschwinden können, sofern sich hier eine Allianz zwischen Frauen bildet, die in der Gesellschaft gemeinsam Diskriminierungserfahrungen erlebt haben. Die indigene Hausangestellte Manita ist von einem Mann schwanger, der sich aber aus dem Staub macht, als er davon erfährt, während der Vater der spanischen Familie seine Frau mit den vier Kindern im Stich lässt. Lässt die Hausherrin anfangs ihre schlechte Laune an den Hausangestellten aus, entwickelt sich trotz der Klassenunterschiede schnell eine Solidarität zwischen den beiden Frauen, was die Konsequenz ihrer drastischen Erfahrungen der Frauen mit dem Leid ist, das ihnen die Männer zufügten, also "No Men No Cry".

Als Manita das Kind im OP zur Welt brachte, hing ein Damokles-Schwert über der Geburt. Es gab davor schon unheilvolle Vorausdeutungen etwa mit dem Erdbeben auf der Säuglingsstation, dem zerbrochenen Krug etc. und ihre Situation ist sowie so schon schwierig. Manita wollte nicht, dass das Kind lebt und so geschah es auch. Damit ist es keine Überraschung, als sie später gestanden hat, was sie tat. Wohlmöglich war es eine Entscheidung, welche in der Situation sehr nachvollziehbar gewesen ist, denn als alleinstehende indigene Frau mit Kind, wäre sie wohl in große Not geraten. Schade um das kleine Wunder Leben. Sie litt sichtlich darunter, aber schließlich muss ihr Leben weitergehen und das nächste Mal ist sie nicht so naiv. Ein Abtreibung in einem christlichen Land Anfang der 70er Jahre stand sicher nicht zu Debatte stand, weshalb darüber auch nicht im Geringsten gesprochen wurde, Hilfe konnte sie aber auch nicht erwarten, um ihr Kind und sich durchzubringen. Aber auch in Deutschland, war das in den 1970er Jahren noch ein Tabuthema, galt die Frau als Heimchen am Herd. Sicher gibt es Problemlagen, in denen eine Abtreibung ein Ausweg darstellt. Allerdings ist eine Gesellschaft, in der man ein Kind töten muss, weil es und die Mutter sonst keine Chance haben, sogar in Armut geraten, eine kranke Gesellschaft. Die Tötung von ungeborenem Leben kann nicht die Lösung sein, sondern eine kaputte Gesellschaft muss so verändert werden, dass die Tötung von ungeborenem Leben nicht notwendig ist.

Faszinierend ist die Zeitreise in das Mexiko der 70er Jahre gelungen. Man hätte schwören können, dass der Film in dieser Zeit gedreht wurde, so unfassbar authentisch wirkt das Ganze. Der Film ist mit viel Anschaulichkeit und Ruhe inszeniert, so dass wenn Tempo aufkommt, man richtig mitgerissen wird, wie beispielsweise bei der Studentenrevolte. Dabei geht mit größere Laufzeit immer mehr in die Tiefe, so dass man eine Beziehung zu den Figuren aufbauen kann. Berührend ist hier die Geschichte der überwundenen Klassenunterschiede, die Solidarität und die Kraft der weiblichen Emanzipation.

An dieser Stelle seien noch zwei weitere Filme genannt, welche die mexikanische Gesellschaft in zwei anderen Epochen darstellen, wobei sich Kontexte im Bezug auf die Frage nach dem Klassenkampf stellen.

#Der Würgeengel

https://moviebreak.de/film/der-wurgeengel

#New Order

https://moviebreak.de/film/nuevo-orden

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