Nach den schier unendlichen Weiten des Weltalls, in die sich Alfonso Cuarón (Y Tu Mama Tambien - Lust for Life) in seinem vorherigen Spielfilm Gravity begab, markiert Roma für den mexikanischen Regisseur nun wieder eine Rückkehr auf unsere Erde. Das titelgebende Stadtviertel von Mexiko-Stadt, in dem Cuarón aufwuchs, erstrahlt im neuesten Werk des Filmemachers hingegen in einem monochromen Schwarz-Weiß, das nicht von ungefähr an das Wesen verblassender, lange zurückliegender Erinnerungen angelehnt ist. Nach seinen letzten englischsprachigen Filmen erscheint Roma, den der Regisseur wieder in seinem Heimatland gedreht hat, gewissermaßen wie eine Rückkehr zu Cuaróns eigenen Wurzeln, mit denen er sich hier auf denkbar intimste Weise auseinandersetzt. Noch bevor die restlichen Schriftzüge des Abspanns in diesem Film eingeblendet werden, beschließt der Regisseur sein Werk mit einer Widmung an Libo. Gemeint ist damit Liboria Rodríguez, das Dienstmädchen aus Cuaróns Jugend, das sich mit verändertem Namen in beinahe jeder Szene im Mittelpunkt von Roma befindet.
Cleo heißt das junge Dienstmädchen in dem Film, das sich sowohl um den Haushalt als auch um die vier jungen Kinder ihrer Arbeitgeberin Sofia kümmert. Während die Mutter selbst einem Vollzeitjob nachgeht, ist ihr Ehemann sowie Vater der Kinder oftmals auf Geschäftsreise und für lange Zeit gar nicht im Familienleben präsent. Cuarón verdeutlicht von der ersten Szene an vielmehr, dass Cleo, die die Kinder von der Schule abholt, Wäsche wäscht, Essen kocht und den Boden in und um das Haus herum säubert, ein elementarer Bestandteil dieser Familie ist, der der Regisseur damals selbst angehörte. Roma stellt sich jedoch schon frühzeitig als besondere Form der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit heraus. Auch wenn Cuarón jedes Set so errichten ließ, dass es exakt seinen Erinnerungen entspricht, und hierfür beispielsweise auch in seinem tatsächlichen Kinderzimmer filmte, nimmt der Regisseur selbst in dem Werk keine zentrale Position ein. Nie lässt sich für den Zuschauer ausmachen, hinter welchem der drei Jungen aus der Familie im Film sich Cuarón befinden könnte.
Stattdessen rückt der Regisseur Cleo in den Fokus, die mit fürsorglicher Bescheidenheit und großer Zärtlichkeit ein inoffizielles Mitglied der Familie darstellt. Besonders deutlich wird dieses Verhältnis in einer ebenso stillen wie berührenden Szene früh in diesem Film, wenn die gesamte Familie einen der offenbar seltenen Abende gemeinsam vor dem Fernseher verbringt, während Cleo die Kinder und Eltern zunächst mit Essen bedient, bevor sie ebenfalls neben einem der Jungs auf dem Boden Platz nimmt und von diesem liebevoll in den Arm genommen wird. Lange Zeit scheint Roma ausschließlich aus solchen Momentaufnahmen zu bestehen, die gar keinem übergeordneten Spannungsbogen oder einer verknüpfenden Dramaturgie folgen müssen, um trotzdem ein überaus klares, einleuchtendes Bild dieser Familiendynamik entstehen zu lassen. Nach und nach widmet sich der Regisseur dem Dienstmädchen allerdings auch auf zunehmend persönlichere Weise und blickt auf all die komplexen Facetten, von denen eine junge Frau wie Cleo betroffen ist, die sich beinahe selbstlos in den Dienst anderer stellt und dabei stets darum ringt, ein eigenständiges, erfüllendes Leben führen zu können.
Die unerschütterliche Konstante in Roma ist hierbei die ruhige Kamera, für die sich Cuarón diesmal selbst verantwortlich zeichnete. In Einstellungen, die der Regisseur wie auch schon in seinen vorangegangenen Filmen mit einer Vorliebe für aufwendige Plansequenzen und langsamen Kamerafahrten inszeniert, entstehen Bilder voller sorgfältigem Detailreichtum. Bilder, in denen der Vordergrund ebenso von Bedeutung ist wie das, was unscheinbar im Hintergrund zu vernehmen ist. Bilder, mit denen Cuarón zunehmend das Politische mit dem Privaten verbindet, wenn unaufgeregte Momente plötzlich von Unruhen wie den realen gesellschaftlichen Studentendemonstrationen, die in grausamer Gewalt eskalierten, oder Naturkatastrophen erschüttert werden. Bilder, durch die Roma, der von Netflix vertrieben wird und nur einen sehr limitierten Kinostart erhält, in Kombination mit dem außergewöhnlichen Sounddesign, das immer wieder Stimmen außerhalb des Bildrandes von unterschiedlichsten Richtungen zum Betrachter vordringen lässt, geradezu zwingend in einen Kinosaal gehören sollte.
Eine dieser schier unfassbaren Einstellungen findet sich unter anderem in einem Moment des Films wieder, in dem Cleo gerade erst endgültig im Krankenhaus erfahren hat, dass sie im 3. Monat schwanger ist. Zuvor wurde sie vom Vater des Kindes, ein von Kampfsport und dem Paramilitär besessener junger Mann, ausgerechnet beim Besuch einer Kinovorstellung sitzen gelassen. Nun steht Cleo in dem Krankenhaus vor der Fensterscheibe der Neugeborenenstation, als ein Erdbeben einsetzt. Während die anderen Babys so schnell wie möglich evakuiert werden, fällt der Blick der Kamera auf einen der Brutkästen, in dem eines der Neugeborenen künstlich beatmet wird. Brocken der Decke fallen auf diesen hinab, doch die Kamera lässt sich von dem plötzlichen Chaos ebenso wenig aus der Erschütterung bringen wie das Baby im Inneren des Kastens, das weiterleben wird. Ein ähnliches Schicksal wird sich nicht zwangsläufig ein weiteres Mal in Roma ereignen. Schon in Gravity blickte Cuarón auf die ganz große Tragödie und verband die Konsequenzen einer gescheiterten technischen Konstruktion mit den Konsequenzen der menschlichen Unfähigkeit, über den vergangenen Schmerz hinwegsehen zu können.
In dem dystopischen Science-Fiction-Drama Children of Men waren die Anzeichen eines neuen Lebens, welches in der nahen Zukunft unmöglich wurde, hingegen Auslöser für eine Massenpanik. Gleichzeitig stellte der Regisseur unter Beweis, dass der für uns längst selbstverständlich gewordene und nichtsdestotrotz nach wie vor wundersame Akt der menschlichen Geburt dazu imstande ist, die Welt weiterhin in ihren Grundfesten zu erschüttern. Auch in Roma wird der Zuschauer Zeuge einer Geburtsszene, nach der für Cuarón ebenfalls weiterhin feststeht, dass das Leben auf dieser Welt nur durch das Gleichgewicht existieren kann, bei dem eine Umarmung zwischen zwei Menschen ebenso bedeutsam ist wie die hohen Wellen, die einem im Meer entgegenschlagen können. In einer kurzen, aber dafür umso bewegenderen Szene des Films sagt die eine verlassene Frau zur anderen: Egal, was sie sagen, wir sind immer alleine. Im Interview zu Roma spricht Cuarón von dem Werk als seinen ersten Film. Es sei der Film, den er schon immer machen wollte. Vermutlich ist es auch der Film, den der Mexikaner machen musste, um vor allem anhand der prägenden Frauen in seinem Leben erkennen und mithilfe des Kinos festhalten zu können, wer er selbst ist.