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Monroe

Kritik von Monroe

Filmanalyse / Kritik — Wir (Originaltitel: Us, 2019)

Regie: Jordan Peele — Hauptdarstellerin: Lupita Nyong’o (Adelaide / Red)

Einleitung

Wir ist kein gewöhnlicher Horrorfilm; Jordan Peele nutzt Genre-Konventionen — Doppelgänger-Horror, Surrealismus, Familiendrama — um eine dichte, subversive Allegorie über Identität, Klasse und die dunklen Spiegelseiten der USA zu erzählen. Was manchen Zuschauer*innen als rätselhaft oder frustrierend erscheint, ist in Wahrheit oft Teil des Entwurfs: Mehrdeutigkeit wird zur Aussage. Die filmische Konstruktion ist dabei so präzise, dass man am Ende kaum anders kann, als die Oberfläche der Ereignisse immer wieder aufzuschürfen — genau deshalb ist Wir so faszinierend.

Die Legende der „Tethered“ — Hintergrund (was im Film erzählt wird)

Im Zentrum steht die Legende der sogenannten Tethered — menschenähnliche Doppelgänger, die unterirdisch leben und scheinbar das Leben ihrer Oberflächenpendants nachahmen, aber ohne Freiheit, ohne Sinn. Red, die Anführerin, gibt Adelaide eine Erklärung: die Tethered wären das Ergebnis eines gescheiterten Experiments (eine Art kontrollierende Kopie, die verlassen wurde), und ihr Aufstand ist ein Versuch, die „obere“ Gesellschaft zu konfrontieren und ihren Platz einzunehmen. Diese Erklärung bleibt im Film absichtlich ambivalent — Jordan Peele liefert Hinweise, aber keine vollständig ausgearbeitete „wissenschaftliche“ Herkunft; die Legende funktioniert eher metaphorisch und mythisch als als klare Hintergrund-Mythologie. 

Wichtig für die innere Dramaturgie ist die späte Enthüllung über Adelaide selbst: die Schlüsselszene im Spiegellabyrinth, der frühe kindliche Zwischenfall, endet damit, dass die Kinder vertauscht werden — der Film legt nahe (und viele Interpretationen bestätigen), dass die Adelaide, der wir bis zum Ende folgen, eigentlich in der Unterwelt geboren wurde und es später in das „obere“ Leben geschafft hat, während das Mädchen, das als Red aufgetaucht ist, ursprünglich das normale Leben führte. Diese Umkehrung macht die ganze Rachebewegung und die familliären Dynamiken noch bitterer.

Die geniale Idee — Doppelgänger als sozialer Spiegel

Die zentrale Genialität von Wir liegt darin, dass die Doppelgänger nicht nur Grusel-Setpieces sind, sondern als gesellschaftliches Spiegelbild funktionieren:

  • Das Doppelgänger-Motiv wird zum Medium, um Fragen zu stellen: Wer sind „wir“ wirklich? Wer wird gesehen und wer unsichtbar gemacht?

  • Die Tethered als soziale Metapher: Sie personifizieren unterdrückte Wut, vernachlässigte Schichten, die Schattenseiten des amerikanischen Traums. Peele lässt sie präzise als Nachahmer auftreten — sie tun alles nach, was die Oberwelt tut, nur sinnentleert — und zeigt damit, wie Systeme Menschen modellieren, entfremden und abwerten. Viele Interpretationen lesen die Tethered auch im Kontext von Rasse, Klasse und dem Versprechen einer „post-racial“ Gesellschaft: die Oberfläche mag zusammenhalten (Hands Across America), darunter bleibt die Ungleichheit bestehen. 

  • Formale Konsequenz: Anstatt eine „rationale“ Erklärung zu liefern, verwandelt Peele die Ursprungsfrage in ein moralisches/poetisches Rätsel — die Suche nach Herkunft wird zur Konfrontation mit den eigenen Unzulänglichkeiten.

Filmische Umsetzung — Stil, Symbolik, Sound, Schauspiel

Peele arbeitet mit einer dichten Symbolik: Spiegel und Spiegellabyrinthe, rote Overalls und Scheren als Waffen, das wiederkehrende Motiv von Händen (und dem historischen Verweis auf Hands Across America), sowie biblische Einschübe (z. B. Jeremiah-Verweise). Kameraführung und Schnitt bauen zunehmend klaustrophobische Intensität; die Soundarbeit (vom atmosphärischen Score bis zu popkulturellen Einwürfen) verstärkt die Verfremdung. All das macht Wir formal sehr ambitioniert — ein Film, der auf mehreren Ebenen zugleich wirkt. 

Und vor allem: die Schauspieler*innen. Lupita Nyong’o liefert eine Meisterleistung: sie spielt zwei Figuren, die äußerlich identisch sind, innerlich aber antipodisch — und das mit hoher Präzision. Ihre Red ist körperlich dominant, sardonisch, mit dieser rauen, befreienden Wut; Adelaide dagegen trägt Narben, Zurückhaltung, mühsam erkämpfte „Normalität“. Nyong’o wechselt Mikrogesten, Körperhaltung, Stimmlage so fein, dass der Zuschauer stets weiß, mit welchem Adelaide- oder Red-Aspect er es gerade zu tun hat. Kritik und Publikum hoben ihre Darstellung wiederholt als Kern des Films hervor — ohne diese Verkörperung würde die Parabel kaum funktionieren.

Warum Wir (für mich) ein Meisterwerk ist

Diese Behauptung ist bewusst pointiert — aber Wir verdient sie aus mehreren Gründen:

  1. Konzeptuelle Tiefe: Peele verwendet den Horror als Analysewerkzeug, nicht nur als Schockmaschine. Die Idee, dass unsere Gesellschaft buchstäblich ihren eigenen Schatten hervorbringt und dass dieses Schattenvolk die Formen unserer Existenz nachahmt, ist als Metapher brilliant und produktiv.

  2. Formale Dichte: Bildsprache, Sounddesign, Motivnetzwerke (Scheren, Hände, Spiegel) und sorgfältig platzierte Hinweise funktionieren zusammen wie ein komplexes musikalisches Thema mit Variationen — der Film belohnt wiederholtes Sehen.

  3. Ambivalente Moral: Wir liefert keine einfache Botschaft. Es fordert, irritiert und provoziert — genau das macht Kunst stark: sie öffnet Räume für Diskussion, nicht fertige Antworten.

  4. Schauspielische Wucht: Lupita Nyong’o (und die starke Ensemble-Leistung) verleiht der Idee Emotion und Glaubwürdigkeit; ohne diese Kernperformance wäre die Struktur bloß intellektuelles Konstrukt.

  5. Wir ist ein mutiger Horrorfilm, der Genregrenzen sprengt: Er ist zugleich Thriller, Familienstudie, Parabel und surreales Sittengemälde. Die Legende der Tethered — halb Mythos, halb politisches Bild — funktioniert als Konzept hervorragend; Peele lässt uns in den Spiegel schauen und erkenntnisreich erschaudern. Die „geniale Idee“, dass unsere Gesellschaft buchstäblich Doppelgänger erzeugt, die ihre Handlungen mechanisch nachahmen und doch voller Zorn sind, ist dramaturgisch und moralisch kraftvoll umgesetzt. Lupita Nyong’o liefert eine zentrale Seelenstiftung dieses Films: eine Performance von großer Bandbreite und Innerlichkeit. All das zusammen macht Wir zu einem Werk, das man mit Fug und Recht als modernes Meisterwerk der Mischung aus Horror und Gesellschaftsdiagnose bezeichnen kann — radikal, unbequem und nachhaltig nachhallend.


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