Recht und Ordnung kollidieren mit Wut und Chaos. Regisseur Romain Gavras leitet sein Sozial-Drama Athena, das bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte, mit einer fulminanten Plansequenz ein: Auf den Wurf eines Molotov-Cocktails, der eine Massenpanik auslöst, folgt ein vermummter Mob, der das örtliche Polizeirevier stürmt. Räume werden auf den Kopf gestellt, multiple Feuerherde werden entfacht, die Jugendlichen duellieren sich mit handfeuerartigen Feuerwerksbatterien gegen die mit scharfer Munition ausgestatteten Polizisten und in Mad Max-Manier gelingt ihre Flucht hinaus auf die Straßen, während die französische Fahne im Fahrtwind weht. Es ist eine atemberaubende Interpretation von Delacroix‘ Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“, auch wenn es in diesem Fall heißt: Der Widerstand gegen das staatliche Gewaltmonopol führt die Community im Banlieue.
Der Regisseur lässt jedoch nicht den Fuß vom Gaspedal. Weitere Plansequenzen in der Siedlung folgen, die die zwei Seiten in der Geschichte begleiten, entweder in Nahaufnahmen oder von hinten auf Schulterhöhe, wodurch eine Videospiel-Ästhetik in Form eines Third-Person-Shooters erzeugt wird. Im Gegensatz zum zu hektisch geratenen Netflix-Eigengewächs „Carter“ ist die Kamera hier ruhiger unterwegs, während Tränengas gesprüht wird und die Stimmen des Aufruhrs durch die Siedlung hallen. Die verändernden Gesichter der Darsteller kann man hierbei in den Nahaufnahmen gut beobachten, wenn beispielsweise die Seite der Ordnungshüter mit dem Polizisten Jérôme (Anthony Bajon) mit Nervosität am Einsatzort eintrifft und die Miene immer ernster wird, aber auch eine Angst mitschwingt, wenn links und rechts Knallkörper auf die stürmende Formation einprasseln. In Fast-Echtzeit transformiert sich der Vorplatz des Banlieues in ein leicht überverziertes Schlachtfeld, auf dem ausgleichende Gerechtigkeit die Kämpfe vorantreibt.
Abseits der umfassenden Auseinandersetzung beider Seiten wird ein Familiendrama erzählt, in dem es jedoch an Substanz mangelt. Abdel, der bemüht ist, für Ruhe bei den Anwohnern zu sorgen, gerät mit der Zeit auch in einen Strudel der Emotionen, der durch Zorn verstärkt wird. Ein zeitweiliger Unterschlupf bei seinem älteren Bruder namens Moktar, der eine Shisha-Bar in der Siedlung unterhält und dubiose Geschäfte betreibt, lässt ein wenig in den damaligen Zusammenhalt der Familie blicken. Für einen größeren Rückblick bleibt aber wegen Gavras Festhaltens am realen Zeitrahmen kein Platz, wodurch ein emotionaler Wert der Hauptcharaktere abhandenkommt.
Inhaltlich wird der Film zudem im späteren Verlauf unter dem Mantel der Redewendung „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ enttäuschend eingehüllt. Die Wirkung der sehr langen Kameraeinstellungen nimmt stetig ab und als Zuschauer wird man mit einem Gefühl der Bedrücktheit und Ratlosigkeit zurückgelassen. Über 90 Minuten lang wird die Eskalation des Konflikts imposant gezeigt, der auch mit dem Chorgesang getriebenen Score eine schwere Note besitzt, aber bei dem Wie und Warum fehlen die Nuancen sowohl bei den Brüdern und dem wütenden Mob, aber auch besonders bei den Gedankengängen der Polizisten. Noch ärgerlicher wird es ganz zum Schluss, wenn die dargestellte Symbolik mehr Fragen aufwirft als dass sie welche beantwortet und der Akt an sich seinen Ursprung durchaus in der chronisch übergreifenden Behandlung von Banlieue-Bewohnern durch die örtliche Polizei hat, Stichwort: Racial Profiling.
Somit kann der furiose Beginn von Athena noch als ein visuell beeindruckendes Barometer für die gereizte Stimmung zwischen Anwohner und Polizei in den Banlieues herhalten, aber mit dem darauffolgenden, dünnen Drama erhärtet sich der Verdacht, dass Romain Gavras nur Interesse an einer spektakulären Inszenierung der Gewaltausschreitungen hat und ein Überblick über ausufernde Exekutive, prekäre Wohnverhältnisse, Rassismus und Rechtsextremismus durch viel Schall und Rauch verloren geht.