Ganz bizarre Erinnerungen an „Avatar: The Way of Water” sprudeln hier hoch und der Grund dafür liegt im wild zusammengewebten Handlungsbogen auf der für Animationsfilme ungewöhnlich langen Laufzeit von 140 Minuten. „Ich bin Mensch XY, wurde von einer radioaktiven Spinne gebissen und habe…“ bildet die Grundlage für die Seite der Protagonist:innen, den Spider-Menschen, und der Gegner, ein Wissenschaftler, war Teil des Teams von Kingpins Multiversum-Experiment aus dem Vorgänger und wurde zum nicht einkalkulierten Kollateralschaden beim Collider-Event, vor dem Peter Parker sich für Miles Morales opferte. Durch den Kollateralschaden wurden dem Wissenschaftler seine Identität, seine Geschichte und seine Familie geraubt und nun muss der an Erfahrung reicher gewordene Morales sowie die Spider-Menschen wie z.B. Gwen Stacy aus dem Multiversum daran glauben.
Die Anomalie in der Narrative steht erneut im Zentrum der Handlung und bei Miles Morales steht nach Phase Eins (versehentliche Anfreundung mit der Heldenrolle/Verantwortung) nun Phase Zwei auf dem Coming-of-Age-Programm: die Emanzipation vom gleichen Handlungsverlauf, den alle Spider-Menschen miteinander teilen, weil er sich nichts mehr vorschreiben lassen möchte. Damit wird der Hindernisparcours neu gesteckt, aber Überraschungen für Marvel-Muffel wie meine Wenigkeit bieten sich hier nicht. Denn Across the Spider-Verse zeigt reichlich mit Nostalgie untermalten Fan-Service, einen nebenbei dudelnden Hip-Hop/R&B-Soundtrack und wieder Familie, Familie, Familie – letzteres ödet wirklich an.
Das Ganze wird erneut mit der Animation hervorragend gestützt. Zig Zeichenstil-Variationen, Comic-Infoboxen und Farbexplosionen mit Glitch-Effekten werden Frame für Frame auf die Leinwand geballert – ein einzigartiges, visuelles Brett und doch zeigen sich Abnutzungserscheinungen im letzten Drittel des Films. Animation und Action harmonieren äußerst gut und der Action-Pegel bleibt zwar stets hoch, aber das Schwingen und Streiten im Spider-Verse zieht sich – fast wortwörtlich. „Alles klar, ihr versteht euer Handwerk bestens, aber bringt die Geschichte nun endlich voran“, könnte man zurufen, denn der Antagonist spielt gefühlt ab der Hälfte der Handlung keine Rolle mehr.
Stattdessen lässt das Regie-Trio Miles wie eine Maus durch ihr dreidimensionales Erzähllabyrinth umherstreifen und in der Konsequenz der eingeschlagenen Route schwelgt der Film in seinem Animationsfest, dem Draufhalten auf die beteiligten Charaktere, damit der Überblick auf die Parteienlandschaft gewährleistet ist und dem Einspielen von epischen Hörnern und Streichern… das unsichtbare Banner mit der Aufschrift „Cliffhanger“ bahnt sich langsam, aber sehr sicher, an. Erzählerisch bewegt man sich im Schneckentempo voran trotz der allgegenwärtigen Rasanz vieler Sequenzen. Es ist wie bei einem High-End-Fernseher: Was nützen mir die besten Visuals im gestochenen 4K, wenn das Programm sich kaum weiterentwickelt hat?
Across the Spider-Verse teilt sich wie „Avatar: The Way of Water” das gleiche Problem: Welche Bilder bleiben nach dem Abspann im Gedächtnis hängen? Das hochskalierte Meme aus dem Trailer, die Spider Society, die New Yorker Skyline, die Momente mit den Elternteilen? Zweifelsohne ist das Resultat sehr schön, kräftig gezeichnet und eine erfolgreiche Übersetzung des Comic-Book-Looks in das Medium Film, aber mehr als „ich nehme das Heft nun selbst in die Hand“, Familiennickligkeiten, u.a. übers Zuspätkommen, und dem Funken der Freundschaft, der den gleichen Trip nur auf eine neue Ebene befördert, ist hier nicht zu erkennen. Der ironisch papierweiße Antagonist, der mit portalgleichen Tintenflecken ausgestattet ist – auf diesem dreidimensionalen, zugegeben sich füllenden, Papier befinden sich die interessanten Zeilen, nicht in Brooklyn und auch nicht bisher im Spider-Verse. Der zweite Teil ist streng genommen ein farbenfroher Interlude als Verbindungsstück zum kommenden dritten Teil – „jenseits des Spider-Verse“ –, der hoffentlich mehr als nur animierten Spektakel zu bieten hat.