Inhalt
Ein junger Kunstlehrer aus Istanbul leistet seit vier Jahren seinen Pflichtdienst in einem abgelegenen Dorf in Anatolien. Er verrichtet seine Arbeit gewissenhaft, wartet aber, trotz einer Affäre mit seiner Kollegin, nur darauf, die Trostlosigkeit der türkischen Peripherie so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. Nach einer Reihe von Ereignissen schwindet aber Hoffnung immer mehr – und der Lehrer offenbart Züge, die ihn als völlig anderen Menschen ausweisen.
Kritik
Seit Nuri Bilge Ceylans letzten Filmen scheint sich kaum etwas verändert zu haben: Weder die kargen, weiten Landschaften noch die gesprächsdurstigen Figuren und erst Recht nicht die üppige Laufzeit, die mit den 197 Minuten seines aktuellsten Films sogar um eine Minute länger ist als sein bisher längster Spielfilm Winterschlaf. Und wieder ist es eine türkische Provinz, in der Ceylan sein Brennglas ansetzt. Eine, die durch den starken Schneefall noch abgelegener wirkt als ohnehin, und die nicht nur durch ihre eisige Wetterlage zur kühlen distanzierten Kulisse des überlangen, zwischen Kontrolle und Kontrollverlust wandelnden Dialog-Kolosses wird.
Hauptfigur dieses ist ein junger Kunstlehrer im letzten Halbjahr seines Pflichtdienstes. Die Sehnsucht nach einem Ende des Lehrdienstes lockt, die Gedanken an eine Arbeit in der Großstadt sind mehr als ferne Hirngespinste. Entkommen lässt Ceylan die von Deniz Celiloglu (Sind wir soweit?) gespielte Figur dem abgelegenen anatolischen Dorf aber nicht: vorher sind einige Dinge zu klären, wie die unversehens im Raum stehenden Belästigungsvorwürfe, die nicht nur die inneren und äußeren Konflikte der Hauptfigur beschleunigen. Der Umgang mit diesen beleuchtet zudem Samets egoistisch-fragiles Selbstverständnis und offenbart in einer von fehlender Reflexion und Unprofessionalität geprägten Abwärtsspirale nach und nach einen der schwierigsten Protagonisten Ceylans Filmografie.
Der Gegenstand der Belästigungsvorwürfe ist aber nur Anstoßpunkt viel weitreichender Gespräche, denen der Film in langen Einstellungen förmlich erliegt. Eine persönliche Schuldfrage, mit der sich der Protagonist aufgrund seines Egos und seines Umfeldes nie wirklich konfrontiert sieht, gerät in den Hintergrund grundlegender, existentialistischer Dialoge um den Zustand der Gesellschaft und Ideologien, die mitunter fesselnde Einzelmomente kreieren. Darin sind Einblicke in die patriarchalen Machtstrukturen und deren Legitimierung und Folgen für Vorwürfe und übergriffe Verhalten nur beiläufige Bestandsaufnahmen, aber keine Themen, denen sich das einzig von einem erzwungenen Meta-Intermezzo aufgebrochene Drama wirklich tiefgründig widmen möchte.
Streng reihen sich in diesem ausführliche Gespräche aneinander, die moralisches Verständnis, die Vergangenheit oder eigene Vorstellungen der Figuren auszuloten versuchen. Lichtblicke in dem von männerdominierten Geschehen setzt die für ihre Rolle in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnete Merve Dizdar (Ersan Kuneri)als Lehrerin und Bindeglied eines kitschfreien Beziehungsdreiecks. Ihr gehören die einnehmendsten Szenen, auch weil ihre Figur jene Konfrontation sucht, die die Hauptfigur nötig hat. Von Nahaufnahmen oder wortlosen Inneneinsichten hält sich Ceylan jedoch wie gewohnt zurück. Es scheint schließlich immer etwas zu diskutieren zu geben: sowohl im Film selbst, als auch über den Film, dessen Voice-Over-Ende nicht zuletzt mit faden Beigeschmack entlässt.
Fazit
Es war einmal mehr in Anatolien: Mit „Auf trockenen Gräsern“ setzt Nuri Bilge Ceylan seinen Stil ohne Veränderungen fort und liefert erneut ein überlanges, äußerst redseliges wie gelegentlich unentschlossenes Spielfilmdrama, welches strapazierenderweise kaum von der Perspektive seiner egozentrischen Hauptfigur weicht.
Autor: Paul Seidel