„Wissen Sie, wie viel Schönheit im Bösen liegen kann?“
Trotz zahlreicher Auszeichnungen zu seiner Zeit scheint Der Zwang zum Bösen (Compulsion) von Regie-Veteran Richard Fleischer (Die Wikinger) heute stark in Vergessenheit geraten zu sein. Unberechtigt, fast schon sträflich. Es handelt sich nicht nur um einen klassischen Spannungsfilm der besten Sorte, er beinhaltet wohl eine der bemerkenswertesten Gerichtsszenen der Filmgeschichte. Mit einer zeitlosen Aussage, wie sie sich treffsicherer kaum ausdrücken ließe.
Die auf einem wahren Fall beruhende Geschichte erinnert in groben Zügen an Alfred Hitchcock‘s Kammerspiel-Klassiker Cocktail für eine Leiche. Zwei junge Männer, hochintelligent und privilegiert, begehen ein grausames Verbrechen. Einen Mord an einem kleinen Jungen. Nicht etwa aus Habgier, Trieb oder sonst „gängigen“ Motiven. Sie halten sich für viel zu überlegen, als dass man ihnen ernsthaft auf die Schliche kommen könnt. Während bei Hitchcock es den Tätern jedoch lediglich um das arrogante Zurschaustellen ihres angeblich perfekten Verbrechens ging, geht die Motivation von Judd (Dean Stockwell, Blue Velvet) und Arthur (Bradford Dillman, Piranhas) noch weiter. Sie wollen alles Erdenkliche im Leben ausprobieren, losgelöst von Moral und menschlichen Emotionen wie Schuldgefühlen, Recht- und Unrechtsbewusstsein, was für sie lediglich eine Schwäche der „einfachen“ Menschen darstellt, auf die sie verächtlich herabblicken. Parallelen zu Hitchcock finden sich dann wieder in der Charakterisierung und „Rangordnung“. Arthur ist die treibende Kraft, das dominante Alphatier, Judd der devote Soldat, dessen starke Abhängigkeit zu seinem Freund schon in einer offen ausgesprochenen Befehls-Hierarchie angekommen ist. Besonders interessant ist dabei der latent homosexuelle Subtext, den das Drehbuch wohl auch aufgrund möglicher Zensierungen nur andeutet, dabei aber oftmals so unverblümt, dass die eigentliche Intention kaum übersehen werden kann. Somit wird nicht nur Stellung gegen das barbarische Auge-um-Auge Prinzip eines Rechtstaates, sondern gleichzeitig auch noch gegen eine andere, aus gesellschaftlicher Prüderie begründete Tabuisierungen bezogen. Schon extrem mutig, was sich der Film damit herausnimmt - Ende der 50er!
Die Einführung der Hauptcharaktere und die Darstellung ihres Denkens und Handelns nimmt das erste Drittel des Films ein, das Whodunnit-Konzept wird nicht verfolgt, Tat und Täter sind von Beginn an klar. Dieses gelingt erschreckend greifbar, mag der Antrieb der Figuren noch so abgründig und unmenschlich sein. Stockwell und Dillman tragen dazu ihren Teil bei, spielen ihre Figuren in jedem Moment glaubhaft. Richtig spannend und ungemein intensiv wird er im zweiten Drittel, wenn die Justiz ins Spiel kommt. Die packenden Ermittlungs- und Verhörszenen bestechen durch ein perfekt durchkonzipiertes Skript, mit cleverem Aufbau und messerscharfen Wortduellen. Jetzt fühlt es sich schon fast wieder wie ein Kammerspiel an, mitreißendes Dialog-Kino ohne künstlichen Schmarrn und Effekthascherei. Da steht Der Zwang zum Bösen den größten Werken dieser Kategorie in nichts nach. Den bekanntesten Star hat Fleischer da noch nicht mal präsentiert, denn das letzte Drittel gehört dem einzigartigen Orson Welles (Im Zeichen des Bösen), der sich erst knapp eine halbe Stunde vor Schluss die Ehre gibt.
Welles läutet in der Rolle des Anwalts Jonathan Wilk den Schlussakt ein, den eines reinrassigen Justizdramas. Mit seinem gewohnt wuchtigen Auftreten beherrscht er wie so oft das Geschehen, degradiert das starke Duo Stockwell/Dillmann zu Nebenfiguren und sorgt für die anfangs schon erwähnte Szene, die einfach sagenhaft ist. Sein Schlussplädoyer gegen die Todesstrafe erstickt jedes Gegenargument im Keim, ist so perfekt ausformuliert und vorgetragen, dass sich die Gänsehaut aller Beteiligten im Saal auf den Zuschauer selbst überträgt. Wenn man überlegt, dass dieser Film aus dem Jahr 1959 stammt, dennoch in dessen Entstehungsland heute noch Menschen hingerichtet werden, erscheint dies wie blanker Zynismus. Das lässt sich auch nicht mit „humaneren“ Methoden rechtfertigen, denn Wilk trifft mit seiner flammenden Rede den Nagel auf den Kopf und sorgt für einen bleibenden Filmmoment.