Dass aus Japan einige überaus abgedrehte Filme stammen, dürfte sich unter Filmfans längst herumgesprochen haben. Vermutlich kommt vielen nun der Name Takashi Miike in den Sinn. Schließlich hat der als japanisches enfant terrible bekannte Miike mit Werken wie Gozu, Visitor Q, The Happiness of the Katakuris oder dem von Quentin Tarantino (Pulp Fiction) sehr geschätzten Audition die Messlatte für auf Zelluloid gebannte Skurrilität ziemlich weit nach oben gesetzt. Dies wäre ihm aber wohl kaum gelungen, wenn nicht andere die Vorarbeit geleistet hätten. Einer dieser „anderen“ lautet auf den Namen Gakuryû Ishii (vormals Sōgo Ishii). Und eines dieser wegebnenden Werke stellt der von ihm inszenierte The Crazy Family aus dem Jahr 1984 dar.
Hierzulande ist The Crazy Family (dessen Originaltitel übrigens Gyakufunsha kazoku lautet) unter dem Titel Die Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb veröffentlicht worden. Was im ersten Moment wie ein weiterer grenzdebiler Einfall irgendeines deutschen Verleihers anmutet (davon gab es in der Vergangenheit schließlich so einige, wie z. B. Ich glaub' mich knutscht ein Elch! oder Das turbogeile Gummiboot) hat tatsächlich eine tiefere und sinnhafte Bedeutung. Im japanischen Sprachgebrauch ist der „umgekehrte Düsenantrieb“ eine Redewendung für spontan einsetzenden Irrsinn, der desaströse Folgen nach sich zieht. Der Begriff soll auf einen Vorfall zurückgehen, bei dem ein japanischer Pilot im Wahn durch das Einschalten des Umkehrschubs einen Absturz seines Flugzeugs herbeiführte. Und genau ein solcher, zu einem Desaster führender Wahnsinn ist es, der uns bei The Crazy Family erwartet.
Ishii erzählt uns die Geschichte der Familie Kobayashi, die es endlich geschafft hat, ihrer engen, inmitten von Tokyo gelegenen Wohnung zu entfliehen. Ab sofort sind die Kobayashis die stolzen BesitzerInnen eines in einem Vorort gelegenen Häuschens. Der soziale Aufstieg ist geglückt. Das war auch nötig, denn Familienoberhaupt Katsuhiko (Katsuya Kobayashi, Revolver), seinerseits Büroangestellter, hat bei seiner Frau Saeko (Mitsuko Baishô, Yume) genauso wie bei seinen beiden Kindern Erika (Yûki Kudô, Die Geisha) und Masaki (Yoshiki Arizono, Ichi the Killer) eine „Krankheit“ festgestellt. Die Krankheit des Versagens, die nur er zu bekämpfen vermag. Aber durch das neue Zuhause bzw. das dadurch gesteigerte Selbstwertgefühl wird nun bestimmt alles (wieder) gut werden. Zumindest glaubt Katsuhiko dies. Wen er dabei allerdings nicht auf der Rechnung hat, sind eine (symbolträchtige) Termite, die er bereits kurz nach dem Einzug entdeckt und die ihm als zerstörerischer Schädling den Angstschweiß auf die Stirn treibt sowie sein eigener Vater (Hitoshi Ueki, Ran).
Dieser steht nämlich kurz nach ihrem Einzug völlig unverhofft mit seinen sieben Sachen vor der Türe, was dazu führt, dass alsbald schon der Haussegen zu wackeln beginnt. Insbesondere deshalb, da alle Familienmitglieder bereits ohnehin ihr eigenes „Päckchen“ zu tragen haben. So wie beispielweise der Sohn. Da dieser durch die Aufnahmeprüfung einer Hochschule gerasselt ist, hat er es sich nun zur Aufgabe gemacht, so viel Wissen wie möglich in seinen Schädel hineinzuhämmern. Für ihn wird das Lernen zur Obsession, durch die er u. a. gar selbstzerstörerische Tendenzen entwickelt. Aber auch die anderen Familienmitglieder verhalten sich immer eigenartiger. Katsuhiko selbst steht nicht nur zwischen den Fronten, er ist mit seinen Baumaßnahmen und dem Wunsch es allen recht zumachen selbst ein Teil des Problems. Als er feststellt, dass sich die „Krankheitssymptome“ seiner Familie zunehmend verschlimmern, greift er zu überaus drastischen Mitteln. Dies mündet darin, dass jeder gegen jeden in den Kampf zieht.
Was nach Familiendrama klingt, ist auch ein ebensolches. Allerdings eines, das im Gewand einer schwarzen Komödie daherkommt, in vereinzelten Momenten gar leicht am Horrorgenre kratzt und insbesondere ab der zweiten Filmhälfte mit Unmengen an skurrilen, grotesken, verrückten sowie aberwitzigen Sequenzen gespickt ist. Körperliche Gewalt spielt dabei zwar hintenraus durchaus eine Rolle, sie ist aber nicht wirklich brutal inszeniert, sondern mutet in ihrer unblutigen Darstellung viel eher comichaft bzw. wie in einem Cartoon an. The Shining auf Koks meets Battle Royale in (irr)witzig, so in etwa könnte man The Crazy Family beschreiben. Gleichzeitig verliert Ishii jedoch zu keinem Zeitpunkt den ernsten, ja regelrecht tragischen Kern seiner Erzählung aus den Augen. Es geht dem japanischen Regisseur nicht bloß darum, dem komödiantischen Exzess zu frönen, indem eine durchdrehende, in einer Spirale der Eskalation feststeckende Familie gezeigt wird. Hier geht es um Menschen, die an gesellschaftliche Konventionen zu zerbrechen drohen. Denn jedes der Familienmitglieder sieht sich mit jeweils unterschiedlich geartetem, die Psyche vergiftenden Erwartungsdruck konfrontiert.
Erwartungsdruck, der ihnen von außen durch die Gesellschaft auferlegt wurde bzw. auch weiterhin auferlegt wird. Und dies schon so lange, dass er längst zu ihrem eigenen Denken respektive ihrem eigenen Anspruch an sich selbst wurde. Bis eben gemäß der Binsenweisheit steter Tropfen höhlt den Stein, der Punkt erreicht ist, an dem der Druck zu groß wird. An dem die eigene Resilienz sich auflöst. Mit der Folge, dass die Dämme brechen, die Kessel bersten, die Ventile explodieren. Etwas, das von den DarstellerInnen, die allesamt herausragende Leistungen und vollen Einsatz zeigen, hervorragend transportiert wird. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Performance von Katsuya Kobayashi als Vater. Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben darf die einfallsreiche Kameraarbeit sowie der punkrockige Score. Wer filmische Eskalationsspiralen mag, die so richtig schön am Rad drehen, ist hier bestens aufgehoben. Jenen, die es gerne deftiger mögen, sei zum Abschluss noch der Film 2LDK empfohlen. Dieses ebenfalls aus Japan stammende Werk ist im direkten Vergleich zwar nicht ganz so gut und auch nicht ganz so verrückt, dafür aber um ein Vielfaches brutaler. Quasi The Crazy Family im Blutrausch.