Wenn du das Spielfeld betrittst, wird das Leben unwichtig.
Gegen Ende werden wir Zeuge eines Zeitsprungs von gut dreizehn Jahren. Wir werden geradewegs in das Jahr 2004 getragen und stoßen auf einen aufgedunsen-schnaubender Diego Armando Maradona, der heute zu Gast in einer Talkshow sein wird und von seiner Suchtkrankheit spricht. Als Maradona auf seine Kinder zu sprechen kommen möchte, bricht seine Stimme, Tränen rinnen sein Gesicht herab. Scham, Enttäuschung und Hilflosigkeit spiegeln sich in seinen Augen wieder. Es sind bedrückende, todtraurige Bilder, die sich dort vor laufenden Kameras abspielen. Bilder, diese ohnehin hochgradig bildgewaltigen Films, die ein für alle Mal verhindern werden, noch einmal auf den Gedanken zu kommen, Diego Maradona zu verlachen. Der Absturz, den dieser Mann über sich ergehen lassen musste, ist in seiner Radikalität wohl beispiellos. Kaum jemand musste den Preis des Ruhms derart hoch bezahlen.
Die beeindruckende Dokumentation von Asif Kapadia (Senna, Amy) konzentriert sich vor allem auf die Jahre 1984 bis 1991, Maradonas Zeit im Dienste des SSC Neapels. Nach zwei Jahren beim FC Barcelona, die zu einer wahren Katastrophe gerieten, schloss sich Maradona dem ausgestoßenen Verein aus Süditalien an und wurde zum neuen Erlöser verdammt. Die ärmste Stadt Italiens kaufte den teuersten Spieler der Welt. Die Erwartungen, die an den gerade einmal 23-jährigen Maradona gestellt wurden, waren astronomisch. Seinen Niedergang unterzeichnete er letztlich damit, dass er allen Erwartungen gerecht wurde. Neapel wurde zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte Meister in der Seria A und holte den UEFA-Pokal. Nebenbei wurde Maradona 1986 mit Argentinien noch Weltmeister und musste zwangsläufig unter der Last zerbrechen, von allen als Gott gefeiert zu werden.
Asif Kapadia konnte für Diego Maradona aus 500 Stunden Archivmaterial schöpfen, die Stimmen von Weggefährten, Zeitzeugen und dem titelgebenden Protagonisten legen sich über die grobkörnigen Aufnahmen und erschaffen eine ungemein beklemmende Atmosphäre, wenn man als Zuschauer über 120 Minuten verfolgen muss, wie eine unantastbare Ikone zugrunde gerichtet wird. Am Ende wird nur noch der Mythos übrig bleiben, der Mythos vom besten Fußballer aller Zeiten. Nachdem Maradona den entscheidenden Elfmeter im Halbfinale der Weltmeisterschaft ausgerechnet gegen Italien im San Paolo Stadium versenkt, wird der einstig strahlende Held, der legitime Nachfolger von Pelé, von einem ganzen Land verstoßen. Er verliert sich in Drogenexzessen, schlägt sich die Nächte mit Prostituierten um die Ohren, verliert den Bezug zur Realität. Der einstige Ausnahmezustand, die Massenhysterie, die Maradona auszulösen vermochte, hat eine 180-Grad-Kehrtwende genommen.
Diego Maradona war nicht länger der soziale Befreier Neapels, der Argentinier wird zur meistgehassten Persönlichkeit Italiens gewählt, noch weit vor Diktatoren und Politikern. Das Leben auf der Überholspur fordert seinen Tribut. Das Tragische an diesem Absturz ist, dass Maradona keine Chance hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Er war entweder Marionette, Messias oder Prügelknabe. Immer schon musste er Rollen erfüllen. Um all dem Druck stand zu halten, hat er sich den Drogen hingegeben und hinter der Kunstfigur Maradona versteckt, bis der unsichere Junge namens Diego im Nebel des exzessiven Rauschs und dem absoluten Kontrollverlust verschwand. Diego Maradona ist ein Portrait des Leids und der Herrlichkeit. Am Ende gewinnt die (Selbst-)Zerstörung: Wo Maradona einst noch von 85.000 Menschen mit Jubelchören begrüßt wurde, verlässt er Neapel einsam und allein. Nichts ist gefährlicher als der Erfolg von gestern.