Inhalt
Anfang 1945 werden überall dort, wo die Front in die Nähe der Konzentrationslager kommt, Gefangene Richtung Westen getrieben. Häftlinge aus den Lagern Sachsenhausen und Ravensbrück müssen bis zu 250 Kilometer marschieren. Anfang Mai werden die Überlebenden der Tortur in Raben Steinfeld bei Schwerin, in Ludwigslust, in Plau am See und noch weiter nördlich von der Roten Armee und der US-Armee befreit. Über sieben Jahrzehnte später folgt Regisseur Martin Gressmann den Hauptrouten der Todesmärsche durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern und lässt die letzten hochbetagten Zeugen zu Wort kommen.
Kritik
Er mache sich große Sorgen, sagt einer der Überlebenden, deren verstörenden Zeugnissen Martin Gressmann (Deutschland 09) auf seiner dokumentarischen Spurensuche lauscht. Wer wird die Erinnerung an die Schrecken bewahren, wenn die letzten derer, die sie selbst erlebten oder mit eigenen Augen sahen, verstorben sind? Die akribische Sammlung von Zeug:innenberichten versteht sich als filmische Antwort auf diese historische Frage, die sich immer dringlicher stellt - besonders bezüglich wenig beachteter Gräuel wie der in den letzten Kriegsjahren erzwungenen Todesmärsche.
Auf diesen marschierten die Gefangenen der Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück huderte Kilometer durchs Land getrieben. Vor der Kamera erinnern sich die ältesten Anwohner:innen der Dörfer entlang der Marschrouten, die sich bisweilen überschnitten und kreuzten. Die SS-Männer, die den Gefangenentrupps die Strecke vorgaben, besaßen oft weder Gebietskenntnis noch Landkarten. Wenn sie die Häftlinge in die falsche Richtung führten, verlängerte sie die Tortour und kam für die, die nicht mithalten konnten, zu einem mörderischen Ende.
Keine musikalische Untermalung begleitet die ergreifenden Gespräche mit einem Dutzend Überlebender der kaum erfassbaren Schrecken; nur ruhige, schmucklose Aufnahmen der nasskalten Waldlandschaft. Dort verborgen liegen bis heute Relikte dessen, was man, mit den Worten einer Augenzeugin, „natürlich vergessen will“. Das systematische Absuchen des Waldbodens nach Grabstätten und Utensilien der Opfer ist Anfangs- und Endpunkt des in seiner Relevanz zeitlosen, angesichts des alarmierenden Erstarkens rechter Bewegungen umso dringlicheren Dokuments: eine Mahnung an das Wahren der Erinnerungen.
Fazit
Nach "Final Account" ist Martin Gressmanns mit archivarischer Gewissenhaftigkeit über sechs Jahre zusammengetragene Chronik ein weiteres Werk, das der letzten Generation an Zeugen der NS-Zeit Gehör verschafft. Aus den Erinnerungen ehemaliger Häftlinge, die auf mörderischen Märschen aus den Lagern getrieben wurden, als die Alliierten anrückten, und Anwohner:innen der Orte, durch die sich die vom Filmteam nachgezogene Route zog, ersteht ein beklemmend lebendiges Zeitbild. Ungeachtet der erschöpfenden Länge ein ebenso bedeutsames wie ergreifendes Filmdokument.
Autor: Lida Bach