„Der Liebesakt nach einer Beerdigung ist Selbstbestätigung. Man hat das Bedürfnis, sich zu beweisen, dass man noch lebt.“
Geht es bei Francois Truffaut (Die letzte Metro) um Antoine Doinel (Jean-Pierre Léaud, Der Schweinestall), bemerkt man als Rezipient ohne Anlaufschwierigkeiten, dass das Band zwischen dem Filmemacher und dem Zuschauer doch ein Stück weit enger geknüpft scheint. Ohne Frage, Truffaut bleibt immerzu ein lebensgewandter Auteur, dessen Kino sich auf das Handwerk der Herzlichkeit versteht, sein Alter Ego, Antoine Doinel, welchem Truffaut letztlich vier Spiel- und eine Episode im Omnibusfilm Liebe mit zwanzig gewidmet hat, aber geht ihm doch merklich näher, weil er diese aufbegehrende Persönlichkeit auch als Symbol- respektive Projektionsfläche verstand, auf der er autobiographische Bezüge reflektieren konnte. Und außerdem war es gerade Sie küssten und sie schlugen ihn, der erste Auftritt von Antoine Doinel, der Truffaut in der Filmwelt überaus erfolgreich Fuß fassen ließ.
Zehn Jahre sind seit Sie küssten und sie schlugen ihn ins Land gegangen, bis mit Geraubte Küsse das zweite abendfüllende Werk des Antoine-Doinel-Zyklus das flackernde Licht der Leinwand erblicken durfte. Die Zeit in der Erziehungsanstalt ist lange vorbei, doch die erwartungsvollen Augen von Antoine glühen weiterhin wie der sehnliche Blick eines Wolfs in der Dunkelheit – und nie werden sie Gefahr laufen, in dieser zu verglommen, dafür bleibt die Synergie aus Truffauts feingeistiger Schreibe und Jean-Pierre Léaud akkuratem Schauspiel einfach zu energiegeladen. Das Gesicht Léauds scheint geziert von einer unstillbaren Sehnsucht, in seinem Wimpernschlag hallt Schwermut wider, in seinem Herzen lodern Flammen der Neugier und der Lust am Entgegenhalten: Léaud wie auch Antoine wissen nun mal, wie es ist, geküsst und geschlagen zu werden.
In Geraubte Küsse treffen wir Antoine vorerst beim Militär wieder, aus dessen streng reglementierten und hierarchisch strukturierten Dunstkreis der Freigeist sich jedoch zügig herauszuwinden weiß: Er ist einfach nicht patriotisch genug, um seinem Land zu dienen. Danach folgt ein wahrer Etappenlauf durch die verschiedensten Berufszweige: Vom Nachtportier zum Elektrotechniker, während ihm zwischendurch auch noch eine Stelle als Privatdetektiv angeboten wird, an dessen Ethos Antoine zwar ebenfalls scheitert, der Film aber offenbar den größten Gefallen findet. Hier kann Truffaut seine Affinität zum Pulp-Genre ohne verkrampfte Zuwendungen ausleben. Der detektivische Ansatz bleibt reine Stilübung, ein entspannter Zeitvertreib, um sowohl das komödiantische Potenzial des Narrativ zu schüren, wie auch Antoines charakterliche Unbeständigkeit zusehends zu grundieren. Antoine nämlich bleibt individuell, was für die Gesellschaft Fluch und Segen zugleich scheint.
Dass Geraubte KüsseHenri Langlois, dem Leiter der Cinémathèque francaise (Francois Truffaut wie auch Jean-Luc Godard werden gerne noch als les enfants de la cinémathèque tituliert) gewidmet ist, legt schon einmal nahe, dass der Film auch eine Ode an die Kraft des Kinos darstellt. Charmant und lebensnah begleitet Truffaut Antoine auf dem Weg durch ein Leben, von dem er selbst nicht recht weiß, was es ihm eigentlich auf Dauer bieten kann und wird: Küsse und Schläge allein reichen nun mal nicht. Der Individualismus treibt Antoine zur Kontextualisierung, zu Ergründung, zur Hinterfragung, während der infektiöse Bewegungsdrang dieser ruhelosen Person direkt aus der Leinwand in die Zuschauerreihen springt und unentwegt mitreißt. Truffaut war eben ein Meister darin, das Juvenile nicht mit dem Infantilen zu verwechseln, seine Spritzigkeit bleibt neben all der Vitalität immer eine reflektierte.
„Mademoiselle, ich bin endgültig.“