MB-Kritik

Writing Life: Annie Ernaux Through the Eyes of High School Students 2025

Documentary

Inhalt

Der Dokumentarfilm untersucht, wie die Schriften von Annie Ernaux in Schulen und Universitäten gelesen werden.

Kritik

Hätte sich Claire Simon nur selbst nach dem Zitat der titelgebenden Schriftstellerin, mit dem ihre dokumentarische Hommage eröffnet, gerichtet. Doch die französische Filmemacherin, die der von ihr augenscheinlich hochgeschätzten Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux eine ungewöhnliche Hommage widmet, konzipiert ihre filmische Doppelschulstunde nach dem Gegenprinzip der besagten Redewendung. Jene besagt etwa, man solle sich nicht zu sehr um sich selbst drehen. Die 90 Minuten Szenen von Oberstufenschüler*innen, die sich mit Annie Ernauxs Werken auseinandersetzen müssen, wirken wie eine eindimensionale Übung in Proxy-Egozentrik. 

Ernaux selbst ist nicht präsent und nicht erkennbar in das Projekt involviert. Somit wird ihre Figur zu einem abstrakten Konstrukt, hinter dem die Regisseurin und ihr Film stehen. Simon dokumentiert nicht die Gedanken und Empfindungen junger Menschen zum Werk Annie Ernauxs, sondern junge Laien-Darstellende beim vorbildlichen Vortragen der erwarteten Reaktionen auf schulische Pflichtlektüre. Dass man die besser nicht kritisiert, wissen alle, die sich im Unterricht durch selbige quälen mussten. Der institutionelle Rahmen ist die offensichtlichste der Konditionen, die unabsichtlich die vorgefasste Aussage in Frage stellen. 

Die Absicht, Ernauxs Werk als zeitlos aktuell und universell darzustellen, ist überdeutlich. Ebenso überdeutlich ist die Konstruktion dieses Eindrucks. Die besuchten Schulen erscheinen wie Vorzeige-Einrichtungen, die Klassenzusammensetzung fast ausschließlich Bildungsbürgertum und Mittelschicht. Eine auffällige Mehrheit der Jugendlichen vor der Kamera ist weiblich und alle wirken in Auftreten, Artikulation und Aussehen angepasst. Niemand fällt hier aus dem Rahmen, am allerwenigsten mit Kritik an der Autorin oder ihrem Werk. Wer kein*e Ernaux-Enthusiast*in ist, wurde scheinbar rausgeschnitten - oder gar nicht erst einbezogen. Entsprechend eintönig ist das Resultat.

Fazit

Formal spiegelt Claire Simons literarische Lehrstunde den faden Inhalt. Handkamera sowie der Verzicht auf Hintergrundkommentar und Stilmittel schaffen einen trügerischen Eindruck von Echtheit. Der verfliegt jedoch umso länger sich die Unterrichtsgespräche hinziehen. Niemand übt offen Kritik an Annie Ernauxs Werk, niemand distanziert sich von dessen Beschreibungen, niemand ist gelangweilt. Jedenfalls nicht auf der Leinwand. Vor selbiger weckt das Fehlen lebhafter Debatten, Dynamik, Streitpunkten oder Skepsis rasch Überdruss. Die belletristische Beobachtung sagt mehr über Unterrichtsmuster und Lehrmeinungen als über Ernaux, junge Menschen oder den Bezug zweiter zu erster. 

Autor: Lida Bach
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