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memorylab

Kritik von memorylab

Gesehen: Oktober, 2022

Diese Kritik enthält Spoiler.

Wie war die Beziehung zu meinem Vater? Zu welchem Zeitpunkt begann sie sich langsam aufzulösen? Aftersun ist zugleich eine durch VHS-Aufnahmen und eigenen, hinzugefügten Erinnerungen rekonstruierte Vater-Tochter-Beziehung als auch eine Reminiszenz ebendessen von einem mehrtätigen Urlaub an der türkischen Riviera. Beides gelingt vor allem dank der unheimlich sympathischen Chemie zwischen Paul Mescal und Frankie Corio, dem sehr behutsamen Erzähltempo und den entspannenden Bildern, die eine Trance im eitlen Sonnenschein erzeugen – als würde eine sommerliche Warmfront aus der Vergangenheit mit der herbstlichen Kaltfront aus der Gegenwart permanent aneinander reiben. Das dadurch entstehende Gewitter – präsentiert als eskapistische und konfrontierende Club-Intermezzi untermalt mit flackernden Lichtern – wirft für Sekundenbruchteile einen Blick in die verregnete, stürmische Gefühlswelt der Protagonisten. Ein meteorologisch angehauchter Rückblick, den Charlotte Wells lockerleicht einfängt und mit einem 90er-Soundtrack emotional auflädt.

Zweite Sichtung

Die abstrakte Wettermetapher greift ausgesprochen gut, doch ist diese lediglich eine alternative Umschreibung des aufwühlenden Reflexionsprozesses der Vater-Tochter-Beziehung, der Charlotte Wells so behutsam begegnet, dass die kleinen Dinge leicht untergehen und beim Entdecken umso mehr erstaunen. Bei der zweiten Sichtung begibt man sich fast schlagartig in Sophies „Gedankenkamera“ aus der Gegenwart. Diese wird nicht nur von den VHS-Aufnahmen angetrieben, sondern ist Teil der konstanten Annäherung an ihrem Vater Calum, der mit seiner Depression sichtlich zu kämpfen hat. Sein Leid wird äußerlich sowohl von seinem eingegipsten, gebrochenen Handgelenk als auch seinen gefährlichen Aktionen (tiefer Tauchgang, freies Stehen auf dem Balkongeländer, der Gang zum Strand bei Nacht) und innerlich von der Gleichgültigkeit (anrollender Bus) und der Abstoßung der harten Fakten („Losing my Religion“ von R.E.M. beim Karaoke-Abend) gezeichnet. Die für ihn wohlmöglich zu früh beginnende Vaterschaft und die Scheidung sind jeweils Ursache und Folge.

Die Gedankenkamera ist der audiovisuelle Erinnerungsmotor, mit dem Wells beeindruckende Motive erschafft. So deuten die Paragleiter im wolkenlosen Sommerhimmel auf eine mögliche Leichtigkeit im Urlaub und Leben hin, während Sophie und Calum sich stets auf dem schweren Boden (der unausgesprochenen Tatsachen) befinden. Wenn es eine Szene gibt, die die Ergründung der vergangenen Beziehung auf den Punkt bringt, dann ist es die dreigeteilte Ansicht in ihrem Hotelzimmer: Links der Spiegel mit Sophie, in der Mitte der ausgeschaltete Röhrenfernseher und rechts im Ausschnitt des Fernsehers der Balkon mit Calum. Zwei Personen, die sich gegenüberstehen und ein Interview, das er bei angeschalteter Kamera verweigert.

Faszinierend und tragisch verdeutlicht wird diese Situation durch den dunklen Zwischenraum, stattfindend im Kopf der gegenwärtigen Sophie. Vergangenheit und Gegenwart prallen aufeinander und die Abbildung beider Tempi innerhalb einer Club-Atmosphäre kann man getrost als Geniestreich bezeichnen. Fragmentiertes Licht, die ihre aufgestauten Gefühle aufblitzen lässt, während er aufgelöst auf den Dancefloor flüchtet – Katharsis und Eskapismus stehen im Zeichen einer versuchten und nicht mehr möglichen Versöhnung Kopf an Kopf. Wie würde sich diese Aussprache wohl auf verbaler Ebene ausdrücken?

Als wäre die Farbe Schwarz noch nicht schwer genug, ertönt im letzten Tanz die wohl traurigste Interpretation von Queens „Under Pressure“ unter der Leitung des Komponisten Oliver Coates. Über die erdrückende Verantwortung für Calum hinaus werden die Vocals von Freddie Mercury – besonders sein langgezogenes, hochgepitchtes “Why?” wandelt sich in Bestürzung um – und David Bowie ab der Mitte des Songs isoliert. Die letzte, akustische Hoffnung des Originals wird von einer hineinbrechenden Welle von Streichern weggespült. Das Geständnis (“Turned away from it all like a blind man”), die Verzweiflung (“Keep coming up with love but it's so slashed and torn”) und die Vergebung (“Can't we give ourselves one more chance? Why can't we give love that one more chance?”) treffen nun umso härter, mit der finalen Akzeptanz:

“This is our last dance

This is our last dance

This is ourselves.”

Das vorzeitige Ableben von Calum und die letzten Eindrücke des gemeinsamen Urlaubs leben in Sophie weiter, festgehalten auf ihrer Gedankenkamera und den VHS-Aufnahmen. Aftersun verewigt beide Komponenten und ist damit ein kraftvolles Abbild einer Trauerverarbeitung, in der die Erinnerungen an einen verstorbenen Elternteil für das ganze Leben lang in uns selbst bestehen bleiben werden – so wie es dieser Film hoffentlich auch tun wird.

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