Wann wird es endlich wieder so, wie es niemals war – hätte Joachim Meyerhoff sich nicht dafür entschieden, seinen zweiten autobiografischen Roman mit diesem Titel zu versehen, man wäre geneigt, ihm der Regisseurin Charlotte Wells für ihr Spielfilmdebüt nahezulegen. Nicht dass Aftersun als Titel unpassend wäre; ein Titel, auf den sich die Schottin bereits vor dem Antritt des Sundance Screenwriters Lab 2020 festgelegt hatte, im Rahmen dessen der Film, produziert von keinem Geringeren als Barry Jenkins (Moonlight), entwickelt wurde. Uraufgeführt im Rahmen der Semaine de la Critique beim Cannes-Film-Festival 2022, beschreibt Aftersun einen Zustand des Danachs im Jetzt; die Präsenz des Vergangenen als Absenz in der Gegenwart; ein Erinnern, das den Sonnenstrahlen einer vergangenen Zeit nachspürt und deren Erinnerung mit neuer Bedeutung belegt. Auf diese Weise nähert sich Charlotte Wells, inspiriert von dem Blick in die eigenen elterlichen Familienalben, in einem impressionistischen Rückblick ihrer Protagonistin Sophie (Celia Rowlson-Hall, Vox Lux) dem gemeinsamen Sommerurlaub mit ihrem dereinst noch jungen Vater Callum, gespielt vom hervorragenden Paul Mescal (The Lost Daughter). Ausgelöst und gerahmt vom Fund der alten MiniDV-Kamera in der Gegenwart, mit der sie ihrerzeit die zehn Tage am türkischen Mittelmeer, insbesondere aber ihren Vater festzuhalten gesucht hatte—sei es auf verstohlene, unbemerkte Weise oder aber durch impulsartige Interviewfragen—, legen sich diese verpixelten Videoaufnahmen wiederholt über die mal sonnendurchfluteten, mal zwielichtigen Bilder der Erinnerung an diese scheinbar idyllische Zeit im mediterranen Urlaubsresort. Durch die Sichtung der alten Tapes tritt die erwachsene Sophie nun mit dem Mädchen in Kontakt, das sie einst gewesen ist, erhält vor allem aber die Chance, ihrem Vater wiederzubegegnen, den sie nun, zwanzig Jahre später, mit anderen Augen sieht.
Formal erinnert diese Struktur aus filmischer Rahmung durchaus an eine andere britische Filmemacherin: Joanna Hogg und ihren The Souvenir-Zweiteiler. Doch während Hogg in ihrem Porträt einer jungen Künstlerin das Element der Rahmung erst dem zweiten Teil hinzufügte und auf diese Weise den künstlerischen und charakterlichen Reifeprozess ihrer Protagonistin in Beziehung setzte, so ist es in Wells' Aftersun vielmehr die Gleichzeitigkeit von Rahmen- und Binnenerzählung, durch die die Grenzen von Dokumentation und Narration noch stärker verschwimmen. Ganz so wie ein Stück Musik, das, abstrahiert man einmal von der Komposition, noch immer Klang erzeugt und ein Text, selbst wenn die Schrift ins Unleserliche drängt, noch immer Tinte auf Papier hinterlässt, so sind auch jene Videos, trotz ihrer Fragmenthaftigkeit, noch immer eine Bezeugung dieses Urlaubs: dass sich dieser tatsächlich zugetragen hat, dass Callum und sie tatsächlich dort waren. Zwar ist sich Wells bewusst, dass die Objektivität des Kino-Auges nur eine scheinbare ist, dennoch bilden die Videoschnipsel die Eckpfeiler der Geschichte und initiieren die Ruminationen, die Sophie zurückführen in jenen Sommer der unzähligen Billiard-Partien, All-You-Can-Drink-Armbänder und Karaoke-Abende, insbesondere aber zu Callum, seinerzeit in einem Zwischenraum gefangen zwischen der Bestimmtheit, seiner Rolle als Vater gerechtzuwerden und der existenziellen Leere, die ihm die Kraft entzieht, jedwede Bestimmtheit anderer Art zu entwickeln.
Wiedersehen und Wiedererleben verschmelzen auf diese Weise zu einer Neuerzählung, die, im Lichte der zwanzig Jahre, die zwischen dieser scheinbar sorglosen Urlaubszeit und dem Moment, als sich Sophie die Tapes auf ihrem Camcorder ansieht, die vergessenen Momente wieder in Erinnerung ruft und in den vertrauten Bildern Neues zu erkennen vermag. Aftersun, das ist zugleich Coming-of-Age- und Come-of-Age-Geschichte, zugleich Slice-of-Life und das über den Moment hinausdeutende Porträt einer Vater-Tochter-Beziehung, vor allem aber ist es das Porträt eines jungen Vaters, der Sophie nun, zwei Dekaden später, mediiert durch das einst von ihr aufgenommene wackelige und verpixelte Bewegtbild des Camcorders, näher erscheint als jemals zuvor, ganz so, als habe sie ihrerzeit nur geschaut, aber nicht gesehen. Die zeitliche und räumliche Distanz zwischen dem Subjekt vor und hinter der Kamera, so legt es Wells nah, ist keinesfalls absolut, sie lässt sich, wenn auch nur für einen winzigen, utopischen Moment, überbrücken.
„Als du elf warst“, hören wir eingangs die Stimme der elfjährigen Sophie, während sie den Camcorder auf ihren Vater richtet, „was dachtest du, würdest du heute tun?“ Man muss eine Weile auf dieser Welt verbracht haben, um in Reaktion auf diese Frage eine gewisse Form der Melancholie zu verspüren, die unweigerlich bei den meisten Menschen einsetzt, wenn sie die Erwartungen ihres vergangenen Ichs mit ihrer gegenwärtigen Biografie abgleichen. Von dieser Szene, die Wells dem Film voranstellt, spult das Video im Schnelldurchlauf zurück. Bilder transmutieren zu Pixeln und die in der Luft schwebende Frage zu einem Anker der Geschichte, der über zu tiefen Gewässern ausgeworfen wird, um uns die Gewissheit eines festen Bodens unter den Füßen zu versprechen. Folgerichtig wendet die junge Sophie ihren Blick stattdessen gen Himmel und zeigt sich seltsam zuversichtlich ob der Tatsache, dass Callum und sie unter dem gleichen Himmel vereint sind—oder dasselbe Boot teilen, wie es eine Weitwinkeleinstellung der beiden später suggeriert.
Und doch gibt es einen Graben zwischen den beiden, den des Alters, des Wissens, der Erfahrungen und des Reflektionshorizonts, den das Casting des adoleszent anmutenden Paul Mescal permanent untergräbt, sodass sich die sonstigen Gäste der Hotelanlage bisweilen verwundert zeigen, wenn sie erfahren, dass es sich bei Callum und Sophie nicht um ein Geschwisterpaar handelt—eine Situation, die, laut Wells, ihrem Vater und ihr während ihrer Jugend oft selbst wiederfahren sei. Und doch drückt sich die Distanz der Jahre, die zwischen den beiden liegen, besonders in Callums späte Antwort auf Sophies dem Film vorangestellte Frage aus, durch die wir erfahren, dass er sich nicht vorstellen könne, einmal 40 Jahre alt zu sein—ja, nicht einmal 30. In solchen Momenten scheint es fast, als vergäße Callum selbst, dass es sich bei Sophie nicht um seine jüngere Schwester handelt, was Callum zu einer überaus einnehmenden Figur macht.
Ohne sich in dramaturgischen Zuspitzungen zu verlieren erkundet Wells diese Kluft zwischen Vater und Tochter mit außerordentlicher Feinfühligkeit. Wie in ihren Kurzfilmen Tuesday und Laps, in denen Leerstellen zu Subjekten werden und kleinste Details in metonymischer Ordnung auf etwas Größeres verweisen, das nicht immer abbildbar ist, so sind es auch in Aftersun instantan unscheinbare Beobachtungen, die sich in der Nachbetrachtung plötzlich anders darstellen als ursprünglich angenommen. Bisweilen kommt das humoristisch daher, etwa wenn sich die seltsamen „ninja moves“, die Sophie an Callum beobachtet, später als Versuche eines meditativen Tai Chis herausstellen. In anderen Szenen hingegen bricht einem die Gegenüberstellung aus Sophies kindlicher Myopie und Callums emotionaler Überforderung das Herz. Eines Abends, als Sophie ihren Vater danach fragt, ob er nicht auch schon einmal diese unendliche Müdigkeit verspürt habe, die einem manchentags das Gefühl gibt, man versinke. Weder gewillt, sie zu belügen, noch darauf aus, ein Tor zu öffnen, das sich später nicht mehr schließen ließe, belässt es Callum bei einer uncharakteristisch schroffen Erwiderung: "Wir sind hier, um eine gute Zeit zu haben, Okay!"
In einem Film, der die typische Aktstruktur wenn nicht hinter sich lässt, so doch bis zur Unkenntlichkeit abflacht, oszillieren diese Momente in der Folge und führen uns Zuschauerïnnen in jenen Zwischenraum von Erinnerung und Moment, dem wir mal mit dem kindlichen, mal mit dem erwachsenen Blick begegnen. Es ist der Beleg einer überaus reifen Regiearbeit, dass diese Schwankungen niemals sprunghaft oder willkürlich daherkommen und dass der Zwischenzustand, pendelnd zwischen momentanem Glück und reminiszierender Melancholie zu keinem Zeitpunkt monoton gerät. Was sich in Charlotte Wells‘ Kurzfilmprojekten bereits andeutete, in denen sie sich, wie es alle guten Kurzfilme zu tun pflegen, auf eine Idee, einen Wesenszustand und/oder einen Moment beschränkt, so ist auch ihr Langfilmdebüt keinesfalls überbordend an erzählerischen Einfällen. Sich einem konsequenten Minimalismus verschreibend, scheint zwischenzeitlich immer wieder das Skelett eines Drehbuchs durch, und doch erhärtet sich der Gedanke, dass es gerade diese formale und narrative Einfachheit ist, welche verantwortlich zeichnet für die emotionale Wirkung, die Aftersun in seinen finalen Momenten auslöst. Dann, wenn wir einsehen müssen, dass sich das Erlebte schlicht nicht wiederholen lässt, ohne es durch die Materialität und Perspektive des Mediums, das es festhält, zu transformieren, und dass sich das Leben auch nach dem Ablauf des Bewegtbildes auf dem Bildschirm weiterspiegelt.