2 Stunden und 20 Minuten lang fegt Everything Everywhere All at Once von den Daniels wie ein audiovisueller Orkan über den Zuschauer hinweg, von dem man sich erst einmal erholen muss. Dabei ist ihr zweiter Langfilm ein großes Sampling-Festival geworden, indem sie nicht nur Elemente aus ihren bisherigen Multiversum-Projekten wie Pockets (2012) und Possibilia (2014) entnehmen, sondern sich auch in die Tiefen der Popkultur und Filmhistorie hinein begeben. Ausgangspunkt dieser Multiversum-Geschichte ist die chinesisch-amerikanische Evelyn Wang (Michelle Yeoh), die einen semi-erfolgreichen Waschsalon führt und in einer zerrütteten Familie zurechtkommen muss: Ihr Ehemann Waymond (Ke Huy Quan) möchte sich angesichts ihrer fehlenden Zuneigung von ihr scheiden lassen, ihrer lesbischen Tochter Joy (Stephanie Hsu) gibt sie keinen Rückhalt und ihr Vater Gong Gong (James Hong) muss sie stets an die traditionellen, chinesischen Gepflogenheiten und dem Unglück über das Dasein von Joy erinnern. Obendrein muss sie eine Masse an Investitionen beim Finanzamt rechtfertigen und begleichen, da ansonsten die Schließung ihres Waschsalons droht. Somit steht Evelyn in einem Zwiespalt zwischen der auseinander brechenden Familie und dem Ende ihrer selbstständigen, beruflichen Existenz.
„Jede Ablehnung hat dich zu diesem Moment geführt“
Ab hier greift das Multiversum-Prinzip in die Handlung ein. Jede vertane Chance und jedes auf der Strecke gebliebene Potential haben jeweils eine Parallelwelt und einen Erzählstrang erzeugt, in der Evelyn ein anderes Leben geführt hat: Ein gefeierter Star, eine Kung-Fu-Meisterin, eine Piñata oder eine Sterneköchin sein – dies und viele weitere Möglichkeiten türmen sich im Film nach und nach auf und es liegt an ihr, nicht nur mit sich selbst und dem final eingeschlagenen Lebenspfad ins Reine zu kommen, sondern auch mit ihrem gegenwärtigen, familiären Umfeld. Ihr bisheriges Scheitern auf allen Ebenen ist der Antrieb für das Multiversum. Das Setup dieses Rahmens geschieht in einem gerade noch so überschaubaren Tempo und wird von Waymond erklärt. Er ist in der Lage, zwischen den Parallelwelten zu hüpfen und kann so Kontakt mit den Evelyns aus den Paralleluniversen aufnehmen. Diese und weitere Fähigkeiten beginnt Evelyn in einer von Matrix-inspirierten Art und Weise zu lernen und so gesellen sich zu dem Familien-SciFi-Drama eine gehörige Menge an Martial Arts und ein verrückter Humor, den man entweder lieben oder hassen wird.
Auf ins Getümmel, überall
Sobald der Multiversum-Motor warm gelaufen ist, drücken die Daniels das Action-Gaspedal voll durch. Die Choreografien der Martial-Arts-Kämpfe von Waymond und Evelyn sind ausgeklügelt und was teilweise für Kampfutensilien eingesetzt werden, ist wahnsinnig witzig. Währenddessen werden immer wieder popkulturelle Elemente eingestreut, die man beim ersten Sichten des Films mit Sicherheit nicht komplett registrieren wird, aber jede erkannte Referenz erhöht den Spaßfaktor ungemein. Das geht so weit, dass das an Inception angelehnte Prinzip des Kicks, um auf die Fähigkeiten aus den Parallelwelten zurückzugreifen, ins Absurde geremixt wird und nicht mehr wiederzuerkennen ist. Man könnte es wie ein DJ-Set von Aphex Twin beschreiben, in dem sich viele Genres die Klinke geben und das Tempo permanent hoch- und runtergefahren und am Equalizer gedreht wird, während dabei allerlei Effekte für die Übergänge verwendet werden.
Eine technische Meisterleistung
Zum Glück geben die Daniels den Zuschauern einen Überblick über die Kampfsequenzen, die durch die Parallelwelten führen, mit einem reibungslosen Schnitt, selbst bei gefühlt 400 Sachen auf dem Story-Highway, und hochklassigen, visuellen Effekten, die von der vielzitierten kleinen Crew aus fünf Leuten und dem geringen Budget von 25 Millionen US-Dollar geschaffen worden sind. Paralleluniversen werden durch eine Änderung des Bildformats präsentiert und die schnellen Zooms unterstützen den Humor. Der Film platzt vor lauter Inhalt aus allen Nähten, aber die visuelle Technik und das Lotsen der Regie funktionieren wie eine kontrollierte Sprengung eines Einkaufszentrums, in dem die Daniels zuvor auf Shoppingtour gegangen sind.
Vorbeifliegende Emotionen im Bildersturm
Inmitten der ganzen SciFi-Action schaffen sie es noch ein Familiendrama entfalten zu lassen. Das Thema Selbstverwirklichung steht natürlich im Raum, aber auch die fehlende Wertschätzung und die Depression, wenn das Gefüge der Familie Wang ergründet wird. Die Emotionen werden toll eingefangen und die Darsteller bringen das nötige Feingefühl in den Momenten während des Chaos. Da der komödiantische SciFi-Anteil des Films so groß geraten ist und eine ebenso starke Wirkung bei mir erzielt hat, konnte ich den emotionalen Unterbau nicht gänzlich erfassen. In diesem Aspekt ist Bong Joon-Ho mit Parasite eine bessere Erzählgeschwindigkeit und Präzision in der Dramaturgie und dem Emotionsspektrum gelungen. Vermutlich lässt sich dies beim zweiten Sichten des Films besser einordnen, aber die Menge an Inhalt, die Gags und die Chemie zwischen den Darstellern und die damit einhergehende Faszination über dieses Multiversum laden absolut dazu ein.
Zweifellos gehört Everything Everywhere All at Once von den Daniels auf die große Leinwand und es ist sehr schade, dass man für diesen grandiosen Film eine Stunde mit dem Zug reisen muss, um ihn sehen zu können. Die Vermarktung hierzulande passiert praktisch nur über die höchste Durchschnittswertung aller Zeiten auf Letterboxd, den 8.8 auf IMDb oder über soziale Medien wie Reddit. Im Normalfall hängt das tolle Plakat im Großformat auf einem gut einsehbaren Billboard und der Film läuft mindestens zweimal am Tag in einem Kinosaal. Die Atmosphäre im Savoy während der Vorstellung war mitreißend und das völlig zurecht. Everything Everywhere All at Once ist ein kunterbuntes Action-Wimmelbild mit liebevollen Darstellern umrahmt von den Gegebenheiten des Multiversums, das nur so vor Kreativität sprudelt.