Ironisch und bezeichnend war das charakteristische Kriterium der 73. Ausgabe des San Sebastián Film Festivals letztlich nicht Originalität oder Kreativität, sondern Affiliation: an das große Vorbild Toronto, wo viele namhaften Titel bereits ihre Weltpremiere feierten, und den wachsenden gesellschaftlichen Reaktionismus und Obskurantismus. Die manifestierten sich mit bedrückender Deutlichkeit sowohl im Wettbewerb als auch den Nebensektionen Spaniens bedeutendsten Film-Events. Über 250 Filme aus 56 Nationen wurden im Herzen der Küstenstadt gezeigt. Schon in den ersten der 10 Festivaltage gingen über 80.000 Tickets über die digitale Theke; fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung des genau wie Karlovy Vary als ehemaliger Kurort bekannten Schauplatzes.
Den legte nicht nur der Festival-Betrieb zeitweise lahm, sondern Solidaritäts-Demonstrationen für Palästina. Ein ebenso deutliches Zeichen wie diese sichtbare und hörbare Position vor dem historischen Kursaal - Zentrum des Festival-Betriebs - war das Fehlen palästinensischer Beiträge und Stimmen im Programm. Das zeigt dafür Kaouther Ben Hanias umstrittenes Doku-DramaThe Voice of Hind Rajab. Die in Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnete Verfilmung des Mordes an einem 5-jährigen palästinensischen Mädchen durch die israelische Armee liefert statt respektvoller Konfrontation spekulative Ausschlachtung. Dass gerade diese den Publikumspreis davontrug, verdeutlicht niederschmetternd die zynische öffentliche Wahrnehmung der Kriegsverbrechen. Dazu schickt man dann „Gedenken und Gebete“.
Oder nur Gebete im Fall der diesjährigen Gewinnerin der Golden Shell Alauda Ruiz de Azúa, die den Hauptpreis des Wettbewerbs für ihr christliches-fundamentalistisches FanalSundayserhielt. In einer Ära des Verschwörungsglaubens, Wissenschaftsfeindlichkeit und religiösen Radikalismus wirkt die Auszeichnung der Kirchenhymne wie ein sozialpolitischer Seismograf. Der Spezialpreis der Jury unter Vorstand des spanischen Regisseurs J.A. Bayona ging an José Luis Gueríns dokumentarisches Porträt Good Valley Stories, das Gentrifizierung und soziale Mariginalisierung verklärte. Joachim Lafosse errang mitSix Days in Springden Preis für die Beste Regie für seine Appropriation einer Schwarzen weiblichen Perspektive - in einem Festivalprogramm ohne Filmbeitrag einer Schwarzen Regisseurin.
Die Silver Shell für die Beste Hauptdarstellung, die seit 2021 die gender-binäre Schauspielpreise ersetzt, teilten sich José Ramón Soroiz für seine Verkörperung eines gealterten Schwulen inMaspalomasund Xiaohong Zhao für ihre autobiografische Rolle im Resozialisierungs-DramaHer Heart Beats in Its Cage. In der besten Nebenrolle wurde Camila Plaate in dem JustizdramaBeléngeehrt. Aus politischer Perspektive wirkt die Auszeichnung vonMaspalomasundBelén, der Argentiniens fanatische Verdachtsverfolgung von Schwangerschaftsabbrüchen thematisiert, wie eine kosmetische Korrektur der moralistisch-repressiven Message von Sundays. AnMaspalomasging auch der unabhängige Sebastiane Award für LGBTQ+ Repräsentation. Das Jose Mari Goenaga und Aitor Arregi inszenierte Drama wurde neben dem Jugendpreis-GewinnerThe Mysterious Gaze of the Flamingoquasi zum Vorzeige-Film des queeren Kinos.
Jenes war im Festival-Programm eher spärlich vertreten. Die technisch-künstlerische Ehrung für die Beste Kamera an Pau Esteve Birba für den Taucher-ThrillerLos Tigreswar angesichts dessen mäßiger Bilder womöglich Konsens an das spanische Kino. Seine starke Präsenz im Programm - neben baskischen Prestige-Produktionen wie dem KostümmelodramKarmele- suggeriert zugleich einen Aufschwung des nationalen Kinos und die Überwindung historischer Repression. Beides bleibt vage angesichts der wechselhaften Qualität der spanischen Filmbeiträge und der ambivalenten Präsentation baskischer Positionen in Filmen wie dem reißerischen Agenten-KrimiShe Walks in Darkness. Drängender war der durch die anhaltenden Proteste vergegenwärtigte Genozid in Gaza, gegen den die Festivalleitung sich deutlich aussprach.
Ein positiver Kontrast zur Biennale, die um klare Stellungnahme herumdruckste. Dass zudem zahlreiche Filmschaffende ein Ende der israelischen Besatzung forderten, lieferte ein starkes Gegenbild zur Berlinale, auf der entsprechende Statements schonmal den Staatsschutz auf den Plan rufen. Die Proteste rückten umso mehr in den medialen Fokus, da Stars auf dem roten Teppich rar waren. Angelina Jolie, Jennifer Lawrence, Juliette Binoche, Colin Farrell und Stellan Skarsgård zählten zu den wenigen Anwesenden. Eine bescheidene Bilanz für das Festival, das weder Venedigs historischen Nimbus, noch Locarnos künstlerischen Standard oder Torontos Promi-Präsenz besitzt. Filmisch und ideell ist ein individuelles Profil nur schemenhaft erkennbar. Der Schauplatz ist perfekt, doch die cineastische Kontur mehr Schatten der Vorbilder als eigenes Profil.