Inhalt
Die Sommertage in Südspanien sind quälend lang und heiß. Während die Kleinstadt im Freibad Erfrischung sucht, hält sich Sara verschämt zurück, denn ihre Körperfülle macht sie bei den populären Mädels zur Zielscheibe gnadenlosen Spotts. Aber heute ist alles anders, denn ein Mensch verliert sein Leben, drei Mädchen verschwinden und Sara kommt dem psychopathischen Killer gefährlich nahe. Bald liegen Wohl und Wehe in den Händen eines Mädchens, das alle nur „Schweinchen“ nennen.
Kritik
Was tun, wenn man Zeugin einer brutalen Entführung wird, dem Täter mit angstgeweiteten Augen ins Gesicht starrt, aber nichts unternimmt, weil die Opfer genau diejenigen sind, die einen seit längerer Zeit aufgrund des eigenen Übergewichts mobben? Zivilcourage zeigen mit der Befürchtung, den Status Quo beizubehalten oder auf Nimmerwiedersehen zu den Folterern sagen und damit selbst zur fahrlässigen Komplizin werden? Dieses teuflische Dilemma verkörperte Sara, gespielt von Laura Galán (Geheime Anfänge), im 2018 erschienenen Kurzfilm Piggy mit einer verstörend guten Mischung aus Traurigkeit, Angst und Panik, ohne dabei ein Wort auszusprechen.
Für die gleichnamige Spielfilmfassung rekonstruiert die spanische Regisseurin Carola Pereda ihren Kurzfilm in den ersten zwanzig Minuten haargenau, fügt Sara aber ein expositorisches Fundament hinzu – sie ist Teil einer vierköpfigen Familie, die eine Metzgerei betreibt (was das wohl zu bedeuten hat) – und der rächende Fremde wird nun von Adrian Grösser (Dein Zuhause gehört mir) gespielt. Kenner:innen des Kurzfilms bewegen sich somit auf vertrautem Terrain, doch die Regisseurin unterschätzt die bereits fortgeschrittene Figurenentwicklung von Sara und nimmt in den verbleibenden 75 Minuten eine Umleitung in Form einer ausführlicheren Charakterstudie, dessen Endresultat Sara jedoch wieder zu einem ähnlich aussehenden Scheideweg führt, nur unter neuen Voraussetzungen.
Während der Umleitung durchläuft Sara einen Verarbeitungsprozess, der ein Ablegen ihres Angstkostüms nur schwer ermöglicht. Neben der polizeilichen Tatortanalyse und den verunsicherten Einwohnern einer spanischen Kleinstadt entwickelt sich eine Coming-of-Age-Story bei Sara, die mit ihrer triezenden Mutter (Carmen Machi, El Bar - Frühstück mit Leiche) vermehrt in einen Clinch gerät. So pendelt Pereda zwischen Familiendrama und Krimithriller sowie zwischen Lüge und Wahrheit und erzeugt zwischendurch eine eigenartige, wenn auch interessante Dynamik, in dem der stoische, freilaufende Fremde die Position eines Stalkers einnimmt und Sara beginnt sich an der Grenze zwischen Gut und Böse zu bewegen.
Ihre Figur entwickelt sich mit der Zeit nur langsam, weil Saras mentaler Kessel der Demütigung und Frustration seit längerer Zeit pfeift und Pereda diesen Zustand im Mittelteil behutsam umkreist. Im letzten Akt spielt sie mit den Erwartungen der Zuschauer:innen und kombiniert den Scheideweg mit dem mentalen Drahtseilakt und fügt dem Ganzen eine ordentliche Horror-Note hinzu. Erneut heißt es für Sara: Kann sie Courage zeigen oder übt sie Katharsis aus? So werden fast 100 Minuten gefüllt, die den Charakterwandel einer übergewichtigen Protagonistin im Zuge eines Mordes und einer Entführung zeigt mit einem gelungenen Farbübergang von pinken zu blutroten Farbtönen. Die Diskriminierung wird, wie im Kurzfilm, mit einer erneut stark aufspielenden Laura Galán wirkungsvoll eingefangen und bekommt durch das Einblenden von Instagram eine digitale Dimension, die lediglich angerissen wird. In dieser Form hätte man den Streifen gut und gerne um 15 Minuten verkürzen können.
Fazit
Die Spielfilmversion von „Piggy“ kombiniert Krimi, Thriller und Coming-of-Age-Story über eine gemobbte Übergewichtige und lockt die Zuschauer:innen in eine Grauzone der ausgleichenden Gerechtigkeit. Dieses Bodyshaming-Karma fängt Pereda erneut stimmig ein und spielt dieses Mal geschickt mit dem Verhältnis zwischen Opfer und Täter. Sollte man die Kurzfilmfassung bereits gesehen haben, muss man sich aber bewusst sein, dass der Spielfilm nur eine große Ehrenrunde in einer spanischen Kleinstadt dreht und es der Handlung schlicht an Tempo und Tiefe fehlt. Dafür wird man aber Zeug:in von einer gemobbten Frau, die ihren demütigenden Spitznamen „Schweinchen“ mit Ansage ad acta legt.
Autor: Marco Focke