Argentinien in den frühen 80er Jahren. Die Militärdiktatur hat ein Ende, und damit auch die Zeit der politischen Verschleppungen und Morde. Ein Land atmet auf, so sollte man meinen.
Die Realität allerdings sieht anders aus. Denn für so manchen ist der Wegfall der alten, schmutzigen Strukturen eine scheinbare Katastrophe, wenn es um das Bestreiten des Lebensunterhalts geht. Und so verfallen einige Akteure der alten politischen Eliten auf die Idee, sich einfach auch weiterhin mit Entführungen und Erpressung über Wasser zu halten — ohne politisches Kalkül im Nacken, sondern nur um des Geldes Willen.
Arquímedes Puccio (Guillermo Francella, »In ihren Augen«) ist so ein Mann. Ein ehemaliger Militär und mehrfacher Familienvater, einer, der seine Frau in der Küche massiert, seiner Tochter bei den Hausaufgaben hilft und in jeder Bewegung würdevolle Autorität ausstrahlt. Doch hinter dieser Fassade lauern Abgründe, denn immer wieder sucht sich Puccio Entführungsopfer, die er im eigenen Haus festhält, foltert und bereitwillig tötet, falls ihm selbst Entdeckung droht. Sein Sohn Alejandro, genannt Alex (Peter Lanzani), gefeierter Rugby-Spieler auf der Suche nach Unabhängigkeit vom väterlichen Einfluss, ist bei alledem mehr als nur Mitwisser: Immer wieder macht ihn der Vater auch zu seinem Handlanger, lässt Alex gar selbst als Köder auftreten, um einen jungen Bekannten ins Netz zu locken, bis ein Ausbruch aus den dunklen Puccio-Machenschaften völlig ausgeschlossen scheint. Doch ewig kann der Clan nicht unentdeckt bleiben.
Manchmal schreibt die Wirklichkeit Geschichten, die so beklemmend sind, dass sie geradewegs für die große Leinwand gemacht zu sein scheinen. Der Fall der Familie Puccio in Argentinien ist so einer. »Basierend auf einer wahren Geschichte« ist zwar ein Label, mit dem in der Filmindustrie reichlich Schindluder betrieben wird, weil Filme häufig keinen Deut besser dadurch werden, dass sie auf tatsächlichen Begebenheiten beruhen. Im Fall von »Der Clan« lässt einen das Label aber dennoch schwer schlucken, und — so viel sei vorgegriffen —, vor allem der Abspann, in dem der tatsächliche Verlauf der Prozesse gegen die einzelnen Mitglieder aufgeschlüsselt wird, funktioniert hervorragend als Schlag in die Magengrube, weil der Film damit quasi zurück in die Realität überführt wird. »La realidad supera la ficción«, heißt es nicht umsonst auf dem argentinischen Filmplakat: Die Realität übertrifft die Fiktion.
Guillermo Francella in seiner Rolle als Arquímedes Puccio ist es, der den Film bravourös trägt und den eiskalten Patriarchen auf der Leinwand lebendig werden lässt. Für Puccio sind die Entführungen reiner Business, die Grausamkeit notwendiges Kalkül, Mitgefühl mit den besorgten Familienangehörigen weiß er nur auszunutzen, aber nicht nachzuvollziehen — und das, obwohl sein eigenes Hauptargument stets der Dienst an der eigenen Familie ist. Hohle Phrasen, wie im Lauf des Films deutlich wird, denn Arquímedes Puccio geht es in allererster Linie um sich selbst und seine Souveränität. Francella spielt das alles auf beeindruckende Weise, kühle Arroganz und Berechnung in jedem Blick und jeder Bewegung.
Alex Puccio bildet den narrativen Gegenpol zu seinem Vater, hin- und hergerissen zwischen der von Arquímedes vehement eingeforderten Loyalität und seinem Wunsch nach einem ganz eigenen, friedlichen und sauberen Leben. Nicht von ungefähr verliebt sich Alex in Mónica (Stefanía Koessl), die von einem Haus in Schweden träumt — weit, weit weg von Argentinien mit seinen dunklen Schatten. Alex’ Gewissensbisse, aber vor allem seine Schwäche, sich dem scheinbar übermächtigen Vater zu entziehen, beherrschen den Film ebenfalls, wobei Lanzanis schauspielerische Leistung neben Francella doch deutlich blasser wirkt — was aber in Anbetracht der verkörperten Rollen sogar passend ist.
Die anderen Familienmitglieder — Arquímedes’ Frau Epifanía (Lili Popovich), die Töchter Silvia (Giselle Motta ) und Adriana (Antonia Bengoechea) sowie die Söhne Guillermo (Franco Masini) und Maguila (Gastón Cocchiarale) — runden das Drama ab. Mit ihrer alltäglichen Interaktion verleihen sie der Geschichte des Clans Tiefe, wobei stellenweise unklar bleibt, inwieweit die einzelnen Mitglieder in Vater Puccios Machenschaften eingeweiht sind. Im Lauf des Films wird aber immer klarer, dass die Beteiligung an den Entführungen ein offenes Geheimnis ist. So serviert Epifanía mit der größten Selbstverständlichkeit Erfrischungsgetränke, während Arquímedes und seine Helfer die nächste Verschleppung planen, und der jüngste Sohn Guille droht an dem finsteren Familiengeheimnis noch mehr zu zerbrechen als Alex. Es ist die absurde Selbstverständlichkeit, mit der alle Puccios über das Grauen im eigenen Haus hinwegsehen, die dem Film einiges an Gänsehautpotenzial verleiht. Und es wird noch gesteigert, wenn Alex für seine zaghaften Versuche, sich aus dem väterlichen Einfluss zu befreien, harte Vorwürfe von der eigenen Mutter erntet, die ihren Mann bedingungslos verteidigt und von Alex Dankbarkeit für dessen Opfer erwartet.
Für (mindestens) vier Entführungen werden die Puccios verantwortlich gemacht, alle vier werden im Film thematisiert und gekonnt dazu genutzt, unterschiedliche Phasen von Planung und Durchführung zu zeigen. Was ein wenig auf der Strecke bleibt, ist die Kontextualisierung; so bekommt man als Zuschauer schon bei der ersten Entführung das Gefühl, dass es sich um einen weiteren Fall in einer langjährigen Routine handelt. Ein wenig mehr Hintergrund hätte hier möglicherweise gut getan, wobei die groben Motive der Familie durchaus geschickt in die Filmhandlung eingewoben werden.
Während der gewählte Inhalt des Films und die überzeugenden Schauspieler »Der Clan« zu einem definitiv sehenswerten Streifen machen, bleiben dennoch auch kleinere Schwächen. Trotz der immer wieder eingeblendeten Jahreszahlen fällt es beispielsweise nicht durchgängig leicht, ein Gefühl für die im Film vergangene Zeit zu behalten. Die Orientierung in der historischen Realität Argentiniens mag sich für jene, die mit Land und Geschichte nicht vertraut sind, möglicherweise schwierig gestalten. Und manche Konflikte und Handlungsstränge schöpft der Film nicht so aus, wie es vielleicht möglich gewesen wäre. Gerade die Nebenhandlung um den verlorenen Sohn Maguila, den Alex quasi als Bußehandlung aus dem entfernten Neuseeland zurückholt, fügt sich nicht völlig harmonisch in den Rest des Films ein, obwohl die verborgenen, nicht explizit ausgesprochenen Konflikte zwischen Maguila und Vater Puccio meisterhaft angedeutet werden.
Insgesamt ist »Der Clan« ein souverän und mit Liebe zum Detail inszeniertes Drama, das zu beklemmen und verstören weiß und das Argentinien der 80er Jahre auf der Leinwand zum Leben erweckt. Dass der Film eben auf realen Vorkommnissen beruht, wird keinesfalls auf dem Silbertablett vor dem Zuschauer hergetragen, sondern sorgfältig in einem gut durchdachten Drehbuch umgesetzt. Wiewohl es ein wenig dauert, bis die Handlung in Fluss kommt, und vor der überragenden Präsenz Francellas nicht alle anderen Darsteller gleichermaßen zu überzeugen wissen, kann »Der Clan« insgesamt doch überzeugen.