Inhalt
Deutschland, kurz nach dem 2. Weltkrieg: Als jahrelanger Häftling der KZs Buchenwald, Lichtenburg, Esterwegen und Flössenburg erlebte Carl Schrade (Bernd Michael Lade) die Gräueltaten der Nazis aus nächster Nähe. Jetzt soll der ehemalige Juwelenhändler als Kronzeuge der Anklage vor einem Gericht aussagen, um seine Peiniger hinter Gitter zu bringen. Auf der Anklagebank sitzen SS-Männer, NSDAP-Funktionäre und Ilse Koch (Lina Wendel), die Frau des berüchtigten KZ-Kommandanten Karl Koch. Die Liste ihrer menschenverachtenden Verbrechen ist lang, die Liste der Ausreden und Rechtfertigungen beinahe noch länger. An der Schuld besteht kaum ein Zweifel. Aber woher stammt Carl Schrades umfassendes Wissen über die Abläufe in der Lagerverwaltung und wie überlebte er mehr als zehn Jahre in den Lagern?
Kritik
Es gibt kein Davor und kein Danach. Der Prozess findet in einem Raum statt, bei dem nicht sicher ist, ob es eigentlich eine Umkleide oder doch ein alter Waschkeller ist. Dort sitzen die Angeklagten mitsamt Verteidigung. Die Richter lassen sich vor einer US-Flagge nieder, die mehr an Partykeller denn an Gerichtsbarkeit erinnert. Carl Schrade tritt auf und erzählt seine Geschichte. Er, der bereits 1934 verhaftet wurde und bis zum Ende des Nazi-Regimes in diversen Konzentrationslager inhaftiert war, erzählt von Folter, Mord, Grausamkeit. Trotz seiner deutschsprachigen Herkunft erzählt er alles in Englisch, während zwei Übersetzerinnen die Aussagen für die Verteidigung verständlich machen. Die Zuschauer hören zu. Darum geht es. Denn auch wenn Der Zeuge als (Kino-) Film wahrgenommen wird, gibt es keine Mehrwertigkeit innerhalb seiner visuellen Ebene.
Was Hauptdarsteller, Regisseur und Drehbuchautor Bernd Michael Lade (Das Geständnis) mit Der Zeuge versucht ist ehrenwert. Der echte Carl Schrade gilt als einer der bekanntesten Zeitzeugen, wenn es um die KZs der Nazis geht. Er überlebte Lichtenburg, Esterwegen, Sachsenhausen und Buchenwald. Zuletzt war er in Flossenburg. Er selbst gab an, ein politischer Gefangener gewesen zu sein, doch die Wahrheit, die erst viel später ans Licht kam, sah anders aus: Er war ein Krimineller, ein "Berufsverbrecher". Ein Stigma, das er erfolgreich manipulierte, denn viel zu einfach hätte es seinen Aussagen geschadet, ihn und seine Glaubwürdigkeit angreifbar gemacht. Doch Der Zeuge thematisiert dies nicht. Am Ende kommt es zur Sprache, dann folgt der Abspann. Davor gibt es nur Menschen, Täter wie Opfer, die im Zeugenstand ihre Berichte aufsagen, die simultan übersetzt werden und dabei die Übersetzerinnen an ihre emotionale Grenze bringen.
Was Der Zeuge bei seinen Figuren schafft, gelingt ihm nicht außerhalb. Die stoische, wenige facettenreiche, im Grunde sogar bleierne Inszenierung erstickt Emotionalität im Keim. Die Menschen, ob nun Täter oder Opfer, mögen auf realen Personen beruhen, doch im Film sind es nie mehr als Hüllen, die Stichwörter aneinander zu Aussagen ketten. Es fehlt an Wucht und einem filmischen Verständnis. Als Hörspiel wäre Der Zeuge empfehlenswert, aber im Medium Film ist das Gezeigte fast schon ein wenig ärgerlich, denn Importanz ist vorhanden, aber mit dieser Umsetzung scheint es so, als ob die nicht genügend gewürdigt wird. Dann doch lieber der Griff zu Schrades Aufzeichnungen lesen. Sein Selbstzeugnis Elf Jahre – Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern wurden erstmals 2014 im deutschsprachigen Raum veröffentlicht.
Fazit
Die Relevanz kann und sollte man nicht absprechen, aber als Film betrachtet ist "Der Zeuge" eine Enttäuschung. Wie wenig die Möglichkeiten des Mediums genutzt wurden, ist fast schon verblüffend. Wenn ein Film genauso gut als Hörspiel funktioniert hätte, ist hoffentlich irgendwas schiefgelaufen. Falls es Absicht war: auweia.
Autor: Sebastian Groß