Inhalt
Die 16-jährige Lilja lebt mit ihrer Mutter in einer heruntergekommenen Wohnsiedlung im postkommunistischen Russland und träumt von einem besseren Leben. Dieses scheint auch in greifbare Nähe zu rücken, als der neue Freund der Mutter, ein Exil-Russe, der in den USA lebt, beide mit nach Amerika nehmen will. Doch schon bald zerplatzt Liljas Traum, als die Mutter allein mit ihrem Freund aufbricht. Lilja bleibt nur das vage Versprechen, sie würde irgendwann nachgeholt werden.
Kritik
Zu den donnernden, tosenden Klängen des Songs Mein Herz brennt der Band Rammstein rennt die 16-jährige Lilja zu Beginn von Lukas Moodyssons Lilja 4-ever durch die Straßen Schwedens. Das Gesicht des Mädchens ist von Blessuren gezeichnet, während ihr Blick Leere und Verzweiflung ausstrahlt. Zwei Gefühle, von denen die ratlose, gehetzte Protagonistin schließlich an den äußeren Rand einer Autobahnbrücke getrieben wird. Ein abrupter Schnitt, der in eine Schwarzblende übergeht, führt die Situation jedoch vorzeitig ins Ungewisse und den Zuschauer drei Monate zurück in die Vergangenheit. Der schwedische Regisseur leitet seinen Film gleich zu Anfang in den Abgrund und der Titel des keine fünf Minuten alten Werks erweist sich als tragischer Scherz. Diesen ritzt die Hauptfigur in einer Szene des Films in eine Parkbank, wobei die ungelenke Kritzelei für Lilja in diesem Moment das Bedeutsamste ist, was die junge Russin in ihrer Lebenslage der Nachwelt noch hinterlassen kann.
Ansonsten ist der Alltag der Protagonistin, die in der ehemaligen UDSSR aufwächst, von Armut, Verfall und Hoffnungslosigkeit geprägt. Ein strahlender Hoffnungsschimmer macht sich hingegen in Liljas Leben breit, als ihre Mutter ankündigt, dass sie mit ihrem Lebensgefährten, ein in Amerika lebender Russe, das Land verlassen werden. Als der große Tag gekommen ist, wird das Mädchen allerdings zurückgelassen und bekommt erklärt, dass sie demnächst erst nachreisen soll. Nachdem Lilja ihre Mutter weinend anfleht, sie nicht alleine zu lassen, und sie unter Tränen umklammert und festhalten will, wird klar, dass es zu der geplanten Nachreise nie kommen wird. Auch die Tränen, die Lilja in dieser Szene vergisst, sind der letzte große Gefühlsausbruch, den Moodysson seiner Hauptfigur zugesteht, bevor alles in ihr nach und nach der leisen Resignation weicht.
Die Tante, unter deren Obhut Lilja gestellt wird, interessiert sich nicht für sie und bringt das Mädchen stattdessen in eine Art Notunterkunft, in der Lilja schon bald der Strom abgestellt wird. Vom Sozialamt ebenfalls im Stich gelassen hat die Protagonistin irgendwann kein Geld mehr, um Nahrungsmittel kaufen zu können. Ein Mensch, mit dem sie ihr Schicksal teilen kann, ist der Nachbarsjunge Volodja, der einige Jahre jünger als Lilja ist und von seinem Vater aus dem Haus geworfen wurde. Gemeinsam leben sie fortan der tristen Wohnung, in der Volodja die bittere Ausweglosigkeit ihrer gemeinsamen Situation gelegentlich mit verträumter Zärtlichkeit zu durchbrechen versucht, wenn er in einer Szene beispielsweise davon erzählt, er sei fest davon überzeugt, dass im Himmel jeder zu einem Engel wird.
In der Hölle auf Erden gelangt die Protagonistin derweil an einen Punkt, an dem ihr nichts mehr bleibt außer ihr Körper, den sie fremden Männern gegen Bezahlung überlässt. Von ihrer Freundin wird Lilja, die lediglich in Orten und Dingen wie russische Techno-Clubs und amerikanisches Fast Food von McDonald's kurzzeitig eine Form der Realitätsflucht findet, mit der Prostitution vertraut gemacht. Trügerisch scheint der Regisseur das erste Mal von Lilja, an dem sie die Kontrolle über ihren Körper gegen Geld aufgibt, noch mit einem radikalen Stimmungswechsel ausgleichen zu wollen. Zeichnet sich im Gesicht der Protagonistin in der dazugehörigen Szene nichts als Ausdruckslosigkeit ab, während sie mit dem fremden Mann Sex hat, so ist Liljas Gesicht in der darauffolgenden Szene geradezu freudestrahlend. In dem Supermarkt, in dem sie in einem früheren Moment des Films noch eine Packung Saft wieder ins Regal zurückstellen muss, da sie nicht genug Geld dabei hat, packt sie nun alles in den Einkaufskorb, was sie sich wünscht, um sich an der Kasse mit genügend Geld auch noch eine Packung Zigaretten zu leisten.
Im atmosphärisch stetigen Auf und Ab von Lilja 4-ever, für das der Regisseur die bisweilen unerträglichen Tiefschläge mit ebenso konsequenter wie schonungsloser Härte inszeniert, folgt auf jedes Anzeichen von Optimismus umgehend der Schritt zurück in den Käfig des Lebens. Lilja kämpft gegen das Aufgeben an, doch ihren Gefühlen, die längst taub zu sein scheinen und unter die sich trotzdem noch so etwas wie Glücksgefühle mischen, als sie den deutlich älteren Andrej kennenlernt, unterliegt sie zwangsläufig. In Moodyssons erdrückendem Sozialdrama ist für falsche Hoffnung kein Platz mehr und so weiß der Zuschauer lange vor Lilja, was die Hauptfigur vermutlich nur ahnt. Ein Versprechen, das keines ist, eine Reise, die ins Nichts führt und ein Körper, in dem das Herz und die Seele schwinden. Vielleicht werden die Menschen im Himmel wirklich zu Engeln.
Fazit
Lukas Moodyssons "Lilja 4-ever" ist ein gleichermaßen mitreißendes wie nur schwer erträgliches Sozialdrama, in dem der Regisseur anhand eines ausführlich gezeichneten Einzelschicksals das tragische Elend einer ganzen Generation zeichnet. In den Plattenbaugegenden Russlands scheint Moodysson immer wieder nach einem rettenden Grashalm greifen zu wollen, wenn kurze Momente von optimistischer Zärtlichkeit durch einzelne Szenen strahlen. Als Gesamtwerk besitzt "Lilja 4-ever" hingegen einen deprimierenden, niederschmetternden Sog, der den Zuschauer immer tiefer in die grausame Abwärtsspirale reißt, in die die Hauptfigur gezogen wird. Ein äußerst starkes Werk, das man nach einer Sichtung wahrscheinlich nicht mehr so schnell an sich heranlassen will, auch wenn es längst in einem verankert ist.
Autor: Patrick Reinbott