„Ich denke an all jene, die etwas in sich finden müssen ... nach einer Zeit großer Ernüchterung.“
Honoré de Balzac
Das Historiendrama Verlorene Illusionen basiert auf dem gleichnamigen Roman von Honoré de Balzac aus dem 19. Jahrhundert. Genauso wie das Buch spielt auch der Film in Frankreich im 19. Jahrhundert und hält mit seiner Botschaft nicht hinterm Berg. Selten findet man einen Film, der allein mit seinem Titel seine ganze Quintessenz verrät. Ein junger aufstrebender Dichter fährt nach Paris, beflügelt von seinem Bestreben, einen Verlag zu finden, der seine Gedichte veröffentlicht. Dort wird er zum ersten Mal mit dem echten Leben konfrontiert, worauf recht bald seine Desillusionierung folgt. In seiner Naivität bemerkt Lucien zunächst nicht, dass er in Machtspiele und Intrigen verwickelt wird. Wer bereits durch das Wort Historiendrama abgeschreckt wurde, dem sei gesagt, dass Verlorene Illusionen trotz der im 19. Jahrhundert angesiedelten Handlung, aktueller, denn je ist. Der Film setzt sich kritisch mit der Literaturwelt auseinander, wobei wirklich niemand verschont bleibt: Kritiker, Verleger und die Gesellschaft als Ganzes.
Damals wie heute leben wir in einer Welt, in der Kritiker eine große Macht besitzen und die öffentliche Meinung stark beeinflussen. Der Film lässt es sich nicht nehmen, einen Seitenhieb auf überkritische Gemüter einzubauen: „Zwei Kritiker sitzen in einem Boot und sehen, wie Jesus über Wasser läuft. Dann sagt der eine Kritiker: „Sieh mal, er kann nicht mal schwimmen!““ Es spielt keine Rolle, wie gut ein Werk ist, es findet sich immer ein Kritiker, der das Werk auseinanderpflückt bis nichts mehr von ihm übrig bleibt als ein gescheiterter Versuch etwas Schönes zu erschaffen. Dabei lässt es sich auch nicht leugnen, dass damals wie heute die Meinungsbildung der Öffentlichkeit stark von den Kritikern abhängt. Sobald man einen Kritiker seines Vertrauens gefunden hat, verlässt man sich automatisch auf seine Meinung ohne zu hinterfragen, ob das, was der Kritiker von sich gibt, auch der eigenen Meinung entspricht. Kein Wunder, dass so manche Künstler den Journalisten lieber ganz aus dem Weg gehen oder auf Nummer sicher gehen und ihre eigenen Kritiken verfassen lassen.
Wer glaubt, dass gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung nicht existiert, der ist noch naiver als die Hauptfigur des Films, Lucien. Die Medien haben große Macht ein Werk oder einen Künstler zu verherrlichen oder zu zerstören, wobei es ihnen längst nicht darum geht, ihre persönliche Meinung zu schreiben, sondern sich an den Meistbietenden zu prostituieren. Es ist herrlich, wie der Film die Metapher der Prostitution für die Journalisten anwendet. Im Grunde genommen nicht nur für die Journalisten, sondern auch für Verleger, Politiker und die ganze vornehme Gesellschaft. Verlorene Illusionen ist schonungslos ehrlich und zeigt, dass egal wie viel Talent man auch hat, es nicht schaden kann, einflussreiche Menschen an seiner Seite zu haben, die für den Applaus bezahlen können.
Auch die Verleger werden in diesem Film nicht von ihrer besten Seite gezeigt. Gérard Depardieu (Daddy Cool) verkörpert einen Verleger, der weder lesen noch schreiben kann, doch trotzdem einer der mächtigsten Verleger in Paris ist, weil er nicht an Illusionen glaubt, sondern nur an Profit. Was für eine Ironie und schon wieder eine gelungene Metapher! Die Menschen, die selbst keine Ahnung von den schönen Künsten haben und nicht in der Lage sind, auch nur einen künstlerisch wertvollen Satz aufs Papier zu bringen, entscheiden darüber, ob talentierte, begabte Menschen ihre Kunstwerke veröffentlichen dürfen oder nicht. Der Film zeigt übrigens Gérard Depardieu in Höchstform, so wie man ihn aus seinen Filmen kennt: Er besticht wie immer durch sein natürliches Talent, wie aus dem Nichts Situationskomik entstehen zu lassen. Wenn es um Talent geht, steht der Hauptdarsteller Benjamin Voisin (Sommer 85) Gérard Depardieu in nichts nach. Trotz seiner Jugend schafft es Voisin mit seiner präzisen Arbeit an der Figur Lucien sowohl den naiven Jüngling als auch den vom Erfolg und Ruhm geblendeten Lebemann zu spielen. Beides gelingt ihm mit Leichtigkeit, deswegen verwundert es kaum, dass er für seine Darbietung in diesem Film mit dem César in der Kategorie bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet wurde.
Der Regisseur und Drehbuchautor Xavier Giannoli (Superstar) übt mit dem Film nicht nur viel Gesellschaftskritik, sondern nimmt in weiser Voraussicht sogar die Kritik an seinem eigenen Werk vorweg, indem er den Journalisten Nathan (Xavier Dolan, Es - Kapitel 2) in seinem Film sagen lässt, dass man als Kritiker immer die Länge des Werkes kritisieren kann. In der Tat ist der Film Verlorene Illusionen mit seinen 149 Minuten nicht gerade ein Kurzfilm und manch ein Zuschauer, der zu sehr an die 90-minütigen Standardfilme gewöhnt ist, könnte mit der Filmlänge überfordert sein. Das ist allerdings noch lange kein Grund für Kritik, sondern lediglich ein Grund für die Aufforderung an den Zuschauer, sich vorher selbst zu fragen, ob man dazu in der Lage ist, einem längeren und durchaus anspruchsvollen Film zu folgen. Wem die nötige Fähigkeit zur Ausdauer und Geduld fehlt, der sollte sich im Nachhinein nicht darüber beschweren, dass der Film zu lang ist.
Trotz der wiederholten Seitenhiebe auf die Presse, merkt man deutlich, dass der Filmemacher Giannoli zu keinem Zeitpunkt die Wichtigkeit der Pressefreiheit leugnet und mit seiner im Grunde idealistisch angelegten Hauptfigur, den Glauben an die Ehrlichkeit der Journalisten, aufleben lässt, auch wenn er die Gefahren der Verstrickung in die profitgierigen Machenschaften hinter den Kulissen der schönen Kunst mehr in den Vordergrund rückt. Giannoli arbeitet nicht nur mit starker symbolischen Wirkung, sondern auch mit optisch beeindruckendem Prunk der vornehmen Welt samt passendem Setting und ausgezeichnet gewählten Kostümen. Er lässt seine Hauptfigur eine wichtige Entwicklung durchmachen und zeigt ihm das wahre Gesicht der „schönen falschen Welt der Aristokratie“. Für alle, denen die schönen Künste und Journalismus als Anreiz nicht ausreichen, gibt es auch noch Liebesszenen, Intrigen und falsche Freundschaften zu bestaunen. Lucien möchte aufhören zu hoffen und anfangen zu leben, doch vielleicht weiß er noch gar nicht, dass er bereits lebt, um darüber schreiben zu können. Vielleicht muss er seine Hoffnung auch gar nicht aufgeben und es funktioniert beides: zu leben und zu hoffen, dass man eines Tages das erreicht, wovon man schon immer geträumt hat. Trotz all der Rückschläge, die die Hauptfigur erleben muss, bleibt der Film hoffnungsvoll und vermittelt den Glauben daran, dass man sich selbst wiederfinden kann, auch wenn man schon lange verloren scheint.